Bibliophilis 
< Garth Stein: Seelendiebe | Dorothy Canfield Fisher: Das allerbeste Apfelmus >

Samstag, 30. August 2008

Gunilla Banks: Fräulein Lindbloms Klasse 2E

Fräelein Lindbloms Klasse 2EUnsere Pfarrbücherei, in die ich sehr oft ging, bevor ich Fahrschülerin wurde und mir mit meiner Monatskarte die große Stadtbücherei näherrückte, hatte sicher mehr als ein Dutzend Bücher, aber es ergab sich, daß ich mir irgendwie immer wieder die gleichen auslieh, mit schöner Regelmäßigkeit einmal pro Jahr. Am besten von allen gefiel mir Fräulein Lindbloms Klasse 2E - ein Kinderbuch, dessen Titel die gereimte Assoziation mit Fräulein Smillas Gespür für Schnee völlig unverdient weckt. Lange Jahre, nachdem ich der Pfarrbücherei entwachsen war, habe ich es mir dann endlich selbst gekauft und es nun, wiederum zehn Jahre später, noch einmal gelesen. Und es war wieder ein Vergnügen, aber diesmal mit einem anderen Hintergrund:

Ich wurde 1981 eingeschult, mitten im Ruhrgebiet, in Castrop-Rauxel-Ickern, Marktschule, und folglich war ich 1982 im zweiten Schuljahr, Klasse 2C bei Frau Holzapfel. Fräulein Lindblom ist 1978 erschienen - vier Jahre machen nicht viel aus, und somit sind dieses Buch und ich quasi Zeitgenossen. Jede Seite ließ mich Parallelen ziehen - war das bei uns damals auch so? Und war Frau Holzapfel nicht eine tolle Lehrerin? Und hatte ich in Ickern nicht die beiden besten Grundschuljahre, die sich ein Kind nur wünschen kann? Schwärmerei über Schwärmerei, bei der jedoch eines mehr und mehr offensichtlich wurde: Egal was auf dem Cover stehen mag, Fräulein Lindbloms Klasse 2E ist nicht »Die witzigste Schulgeschichte der Welt«. Und egal was im Klappentext steht, solch eine Lehrerin wünsche ich eigentlich niemandem.

Die Lehrerin, Fräulein Lindblom, ist ohne jeden Zweifel eine ganz liebe. Aber sie kann nicht mit Kindern umgehen. Je mehr es sind, und je jünger sie sind, desto hilfloser wird sie. Elterntage, bei denen auch noch die ganzen kleinen Geschwister mitkommen und chaotisch herumtoben, sind ihr ein Graus. Ihr fehlt jede Form der Autorität, Durchsetzungsvermögen, oder sonstein Plan. Praktisch gesehen, machen die Kinder in ihrer Klasses, was sie wollen, und für diese Hilflosigkeit lieben sie ihre Lehrerin. Aber sie nehmen sie nicht ernst, und nicht für voll: Warum läßt diese Frau, die sogar verheiratet ist und damit auch schon 1978 das volle Recht hätte, mit Frau angeredet zu werden, zu, daß ihre Klasse sie mit Fräulein anredet? Daß mit wenigen Ausnahmen jeder Junge aus der 2E offen erklärt, sie heiraten zu wollen, und sich den schnellen Tod ihres Gatten herbeisehnt?

Wir aus der 2C hatten unsere Frau Holzapfel auch gern, aber keiner kam auf die Idee, sie heiraten zu wollen - ob sie einen Mann hatte oder nicht, war uns und überhaupt völlig egal. Sie war Frau Holzapfel, Punkt. Eine nette junge Lehrerin - Frau Lindblom sah für mich immer aus wie sie - die, frisch von der Uni, tolle Ideen und sinnvolle positive Ansätze mitbrachte. Bei ihr habe ich mehr gelernt als nur schreiben, und ganz sicher konnte sie wirklich gut mit Kindern umgehen und mußte auch vor den jüngeren Geschwistern keine Angst haben. Und auch wenn es die gleichen Zeiten waren und die antiautoritäre Erziehung noch in aller Munde war, und auch Frau Holzapfel niemals autoritär herumbrüllte - sie war eine Person, vor der ich damals Respekt hatte und heute noch viel mehr.

Aber zurück zum Buch. Es ist nicht witzig, und Fräulein Lindblom ist keine tolle Lehrerin - aber es ist trotzdem ein gutes Buch, in seiner differenzierten Schilderung der Kinder und Erwachsenen mit ihren Ticks, Sorgen und Träumen. Der hyperaktive Fredrik, der im Unterricht wahlweise sterbende Soldaten malt oder stört, ist die eigentliche Hauptfigur des Buches, auch wenn die Autorin sich bemüht, den anderen Kindern gleichmäßige Plotanteile zuzuschustern. Wobei spätestens beim zweiten oder dritten Lesen auffällt, daß manche Kinder aus der Klasse nicht einmal erwähnt werden - siebzehn Schüler sind nun wirklich nicht zuviele, um jeden einzelnen auszuarbeiten, aber das ganze Buch über lernen wir nur neun von ihnen kennen - über den Rest kann man nur rätseln und sich fragen, ob die Klasse wirklich nur drei Mädchen hat und ob Fräulein Lindblom nicht wirklich besser an einer Bullerbüesken Zwergschule untergebracht wäre.

Eine durchgehende Handlung gibt es nicht: Wie für Schulgeschichten typisch, haben wir eine lose Ansammlung von Annekdoten und Geschichtchen aus Unterricht und Pause. Die Geschichten sind mehr oder weniger witzig, dafür eigentlich immer plausibel und lebensnah - nicht nur für mich, die ich diese Zeit noch miterlebt habe; auch heutige Kinder können sich darin wiederfinden oder heutige Eltern ihre Kinder, auch wenn die vielleicht nicht mehr Abba und die Beatles hören und Generalissimo Francisco Franco schon etwas länger tot ist.
Zwischendurch kommt das Buch, wie sollte man es von einem Zeitgenossen auch anders erwarten, mit der Moralkeule daher: Frauen und Männer sind gleichberechtigt, Krieg ist schlimm, etc. Aber genau das waren die Themen, die mich als Siebenjährige auch bewegt und berührt haben, und darum nehme ich das dem Buch nicht übel.

Als die Kinder lernen sollen, was Demokratie ist und daraufhin demokratisch beschließen, jetzt alle nach Hause zu gehen und ihre liebe Lehrerin daraufhin in Tränen ausbricht, kommt der beste und selbstironische Moment des ganzen Buches: Fredrik läßt die ganze Klasse »demokratisch« erklären, daß ihre Lehrerin die beste der Welt ist, und verkündet dann: »Und jetzt holt eure Blöcke heraus und zeichnet die restliche Stunde über, und damit basta! Das habe ich nämlich bestimmt, für diesmal haben wir nämlich genug Demokratie gehabt!«
Dem habe ich nur noch wenig hinzuzufügen.

Im wirklichen Leben wären Fräulein Lindbloms Kinder jetzt alle Mitte bis Ende Dreißig, und ich ertappe mich beim Lesen bei der Frage, was wohl heute aus ihnen geworden sein mag - so wirklich sind sie für mich, damals wie heute. Und wirklich ist für mich ein wichtigeres Kriterium als witzig. Aber ich habe inzwischen sowieso mehr das Gefühl, daß Gunilla Banks das Buch mehr für die heutigen Erwachsenen geschrieben hat als für die damaligen Kinder. Aber wenn es mir mit neun Jahren gefallen hat - nachdem ich vom Ruhrgebiet ins Münsterland gezogen war und meine alte Schulklasse, allem voran Frau Holzapfel, bitterlich vermißte - und mir heute noch gefällt - wo ich immer noch gerne an die Marktschule und Frau Holzapfel zurückdenke - dann läßt das nur einen Schluß zu:
Dies ist ein gutes Buch.


Dieses Buch über Amazon bestellen: Fräulein Lindbloms Klasse 2E
Geschrieben von Buchmensch in Kinderbuch um 14:03 | Kommentar (1) | Trackbacks (0)
Tags für diesen Artikel: Schule, Schweden
Artikel mit ähnlichen Themen:
  • Wolfgang Herrndorf: Tschick
  • Barbara Wendelken: Eine Frühstücksfee für Julia

Trackbacks
Trackback-URL für diesen Eintrag

Keine Trackbacks

Kommentare
Ansicht der Kommentare: (Linear | Verschachtelt)

Millward<br />
“ title=”Millward<br />
“ class=”comment_avatar avatar_left“ height=”65“ width=”65In the long run, there a quickness of review, uncovering and escapade in this ウィザードリィ RMT 最安値 that has been out in a set of other マビノギ RMT 最安値. It complex as pain to expertness anything for the treatment of benchmark but when you do control to get the whole shebang rectify you get a quickness of culmination I not in any way had sooner than while crafting. This all goes encourage to immersion but it gives you a susceptibilities of more than compelling buttons and it a been a want without surcease since I felt that.
#1 Millward (Homepage) am 11.01.2013 18:16 (Antwort)

Kommentar schreiben

Umschließende Sterne heben ein Wort hervor (*wort*), per _wort_ kann ein Wort unterstrichen werden.
Pavatar, Gravatar, Identicon/Ycon Autoren-Bilder werden unterstützt.
Standard-Text Smilies wie :-) und ;-) werden zu Bildern konvertiert.
Die angegebene E-Mail-Adresse wird nicht dargestellt, sondern nur für eventuelle Benachrichtigungen verwendet.
 
 

Fehler

Serendipity Fehler: Kann Datei '@serendipity_html_nugget_plugin:bf2b89e47a53996b7f4ee3bb76cca25a' nicht einbinden - wird beendet.

Fehler

Serendipity Fehler: Kann Datei '@serendipity_html_nugget_plugin:96dbd774ee630738664b99fc55cbafe6' nicht einbinden - wird beendet.

Fehler

Serendipity Fehler: Kann Datei '@serendipity_categories_plugin:ae8e0fb48bb46cf2c8c36b8cfdd29255' nicht einbinden - wird beendet.

Fehler

Serendipity Fehler: Kann Datei '@serendipity_quicksearch_plugin:c87089098f321178d23458935c886f77' nicht einbinden - wird beendet.

Fehler

Serendipity Fehler: Kann Datei '@serendipity_archives_plugin:f972265af115f7fc7a3da00e6798e2ac' nicht einbinden - wird beendet.

Blogroll

  • Buchjunkies
  • BuchStaben
  • Cinema in my Head
  • Daydreaming and Dreaming
  • Ms. Yingling Reads
´

Fehler

Serendipity Fehler: Kann Datei '@serendipity_syndication_plugin:ae0627aefeab519b8645f70ea0c3d420' nicht einbinden - wird beendet.

Statistiken

Letzter Artikel: 27.12.2011 09:37
55 Artikel wurden geschrieben
57 Kommentare wurden abgegeben
2347 Besucher in diesem Monat
817 Besucher in dieser Woche
46 Besucher heute