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Von einem Autor erwartet man, dass er gerne schreibt, doch wenn ein Autor über eine Schreibblockade klagt, wundert sich niemand – stillschweigend geht man davon aus, dass dies eben zum Beruf gehört. Aber was ist, wenn eine Buchhändlerin oder Bibliothekarin plötzlich unter einer Leseblockade leidet? Die muss doch gerne lesen – schon von Berufs wegen! Und doch ist mir genau das passiert.

Es begann schleichend. Ich fraß Bücher, seit ich lesen konnte. Mit zwölf Jahren fasste ich mir ein Herz und fragte, ob ich in der Schülerbücherei mitarbeiten dürfte. Mit siebzehn Jahren begann ich als Schülerhilfskraft in der Stadtbücherei. Mit neunzehn Jahren studierte ich Bibliothekswesen. Mit dreiundzwanzig Jahren machte ich eine Ausbildung zur Buchhändlerin. Mit fünfundzwanzig hörte ich auf zu lesen. Die Schuld dafür gab ich der IHK, die mich für meine Abschlussprüfung eine Auswahl von neun aus achtzehn Büchern lesen ließen, von denen ich kaum eines freiwillig hätte lesen mögen. Aber das stimmt nicht. Das war nur der Moment, als mir meine Leseblockade bewusst wurde. Was sind schon neun Bücher? Früher hatte ich drei am Tag gelesen! Die Wahrheit war eine andere. Die Wahrheit war: Zu viele Bücher. Zu viele Bücher.

Ich mag nicht zum Lesen gezwungen werden. Ich mag nicht ein Buch lesen, nur weil es neu ist oder angesagt oder auf einer Bestsellerliste steht. Ich mag nicht einmal Bücher lesen, weil sie mir jemand empfohlen hat – das belegt jedes Buch mit einer unnötigen Erwartungshaltung. Was, wenn das Buch mir nicht gefällt? Hat mich dann der, der es mir empfohlen hatte, nicht mehr gern? Wird er enttäuscht sein, wenn ich enttäuscht bin? Und so weiter. Das Einfachste ist dann: Nichts mehr lesen. Oder so gut wie nichts. Meine Regale bogen sich von Büchern, die ich nie gelesen hatte. Hunderte von Fantasyromanen, Dutzende Werke der Weltliteratur, in sanft verstaubendem Schlummer. Meine Liebe zum Buch war ungebrochen. Nur die Liebe zum Lesen, die war abhandengekommen.

Die Wende kam im Sommer 2006, und sie kam da, wo es damals angefangen hatte: In der Stadtbücherei, die ich großspurig verlassen hatte, um der Welt beste Bibliothekarin zu werden. Kleinmütig kehrte ich zurück, arbeitslos, sozialhilfeempfangend, als Praktikantin. Ich investierte zehn Euro in einen Leseausweis. Und begann, zaghaft, mit der Wiederannährung an das Buch. Büchereibücher sind toll. Sie sind unverbindlich. Sie fordern nichts. Wenn ich sie nicht zu Ende lesen mag, tut es vielleicht ein anderer, oder hat es schon. Und am Ende kehrt das Buch in die Bücherei zurück, als wäre nichts geschehen. Ich liebe Büchereibücher.

Um meinem wiedergefundenen Hobby angemessen und mit sichtbaren Resultaten zu begegnen, beschloss ich, zu jedem gelesenen Buch eine Rezension zu verfassen – subjektiv und parteiisch, frei von Konventionen und Zwängen. Ich lese, wann ich will, wie ich will, und was ich will. Bestsellerlisten bedeuten mir da nichts; ich lese, was mir in die Finger fällt und auf den ersten oder zweiten Blick interessant scheint. Ein Buch muss nicht gut sein, damit ich es lese, aber wenn es nicht gut ist, mache ich auch kein Geheimnis daraus. Niemand bezahlt mich für meine Rezensionen. Niemand hat einen Einfluss darauf, was mir gefällt, außer dem Autor und mir selbst.

Ich las, und rezensierte, schubweise bis Ende 2011 – mal monatelang praktisch nichts, dann acht in einer Woche – und schrieb meine Rezensionen dazu. Dann kam die Zäsur. Ich bin nicht nur Bibliothekarin und Buchhändlerin, ich bin auch – und heute nur noch – Autorin. 2012 unterschrieb ich meinen ersten Verlagsvertrag, und spätestens als 2013 dann mein Debutroman erschien, dachte ich, ich dürfe nicht mehr rezensieren – will man eine Autorin lesen, die ihre Konkurrenz schlechtmacht? So versank Bibliophilis im Dornröschenschlaf, bis die Ruine der Webseite, mit völlig veralteter Blogsoftware gestaltet, sich nicht einmal mehr aufrufen ließ. Es war schade darum, ich mochte meine Rezensionen. Aber ich schrieb keine mehr, in vorauseilendem Gehorsam, dass ich das als veröffentlichte Autorin nicht mehr dürfte.

Und noch etwas tat ich nicht mehr: lesen. 2023 war ich wieder runter auf ein, zwei Bücher pro Jahr. Ich kaufte weiterhin neue Bücher, ich wollte ja lesen, aber ich kam nicht mehr rein, und ohne den Anreiz, hinterher einen gepfefferten Verriss schreiben zu dürfen oder zumindest eine ambivalente Betrachtung, legte ich begonnene Bücher schnell wieder zur Seite. Anfang 2024 beschloss ich, dass sich das ändern musste. Das Lesen fehlte mir zu sehr, und das Rezensieren auch. Ich rekonstruierte Bibliophilis mit aktueller Blogsoftware, importierte fünfundfünfzig mehr oder weniger gelungene Rezensionen, während ich fleißig am ersten Buch des Jahres las, und da war sie wieder, die Freude am Lesen, die Freude an der spitzen Feder.

Im Laufe der letzten zehn Jahre habe ich selbst zahlreiche Rezensionen eingesteckt, positive wie negative, Lob, Kritik, und sogar Schmähungen. Manches tut weh. Vieles erfreut. Jede Rezension ist wichtig. Sie dienen nicht nur der Empfehlung, sondern verhindern auch, dass die Leute ein Buch lesen, das ihnen am Ende nicht gefällt. Kein Buch ist für jeden, auch meine nicht. Für mich richten sich Rezensionen nicht an Autoren, denen man Streicheleinheiten zukommen lassen möchte, sondern an die Leser. Ich tue mich immer noch schwer, Bücher zu lesen von Autoren, die ich kenne – ich bin dann voreingenommen, will das Buch mögen und bin doppelt traurig, wenn ich es nicht tue. Und ich möchte wirklich niemanden aus meiner Autorenbubble, meinem Forum, meinem Freundeskreis schlechtreden. Darum werde ich Bücher von Freunden nur rezensieren, wenn sie mir gefallen. Wenn nicht, breite ich den Mantel des Schweigens drüber. Aber der Großteil dessen, was ich lese, stammt von Autoren, zu denen ich, über das gelesene Buch hinausgeht, keine Beziehung habe, und da kann ich genauso unvoreingenommen rezensieren wie früher, ohne mich zensieren zu müssen.

Dieses Buchblog ist für Leute, die gerne lesen und auf der Suche nach Anregungen abseits des Mainstreams sind, denen es nicht um Markterfolg geht, sondern um Lesevergnügen. Es ist für Leute, die nicht gerne lesen, aber gern den Anschein erwecken würden, sie täten es – schnell meine Rezensionen verinnerlicht, und schon kann man allen buchgewandten Freunden oder Kunden erzählen, was Thornton Wilder doch für ein begnadeter Autor ist … Und es ist für jene Leute, die wie sich ich mühsam ins Lesen zurücktasten müssen, damit sie wissen, dass sie nicht ganz allein sind. Ich freue mich über jeden Kommentar und jede Gegendarstellung, aber bitte empfehlt mir keine Bücher, wenn ihr wollt, dass ich sie lese. Denn weiterhin gilt: Auf dem Markt gibt es einfach zu viele Bücher. Zu viele Bücher.