Kelly Armstrong: The Summoning

Um Aktuelles, und insbesondere um Bestseller, habe ich seit jeher einen Bogen gemacht, unwillens, mir von Markt oder Marketing vorschreiben zu lassen, was ich zu lesen habe. Aber jetzt hat sich das Blatt ein wenig gewandelt. Zunächst einmal kann ich vermelden, dass ich meine Arbeit verloren habe, und was grundsätzlich eine Menge Unannehmlichkeiten mit sich bringt, bedeutet auf der anderen Seite, dass ich jetzt zumindest wieder viel Zeit zum Lesen habe, zum Schreiben und zum Rezensieren, weswegen es meine erste Tat ist, das Blog wiederzubeleben und mit neuen Inhalten zu füllen. Ich bin aber nicht mehr so arm wie bei meiner letzten Arbeitslosigkeit, wo ich von weniger als dem Hartz IV-Regelsatz leben musste, und konnte mir den Luxus herausnehmen, wieder Bücher zu kaufen. Viele Bücher. Schon aus der Vorfreude heraus, endlich wieder Zeit zum Lesen zu haben… Und da ich als Autorin wissen möchte, was meine Zielgruppe denn so liest – gerade wenn ich Jugendbücher schreibe, ist es zwar schön, das zu schreiben, was ich in dem Alter selbst gern gelesen hätte, aber man darf nicht vergessen, dass zwischen meiner Zielgruppe und mir mehr als zwanzig Jahre liegen. Zeiten ändern sich. Bücher und Geschmäcker auch.

So habe ich mir ein Dutzend interessanter zeitgenössischer Bücher bestellt – allesamt Kram, der mich grundsätzlich anspricht, denn ich habe immer noch keine Lust, etwas zu lesen, das ich nicht mag: Also keine Vampirromanzen, aber Geschichten über Feen, Geister und das Außergewöhnliche. Dann stand ich da mit einem Stapel Bücher, und musste doch erst einmal schlucken. Habe mich dann aber doch gleich ans Werk gemacht. Und sofort der erste Titel, den ich da erwischt habe, hat sich als Volltreffer herausgestellt. The Summoning ist der Auftakt einer Trilogie mit Namen Darkest Powers, und dass ich von ganzem Herzen hoffe, dass es wirklich nur eine Trilogie ist, liegt mitnichten daran, dass mir das Buch nicht gefallen hätte. Im Gegenteil. Ich konnte es nicht aus der Hand legen. Wirklich. Es hat mich so sehr gefesselt, dass ich noch nicht mal, wie ich es mit meiner üblichen Konzentrationsschwäche sonst tue, Seiten nur überflogen habe, aus Angst, ich könne irgendetwas verpassen. Ich habe mich gegruselt, ich habe gelitten, gehofft, gefreut, kurz: Es war sauspannend.

In meiner Jugend gab es eine Comicreihe für Mädchen: Vanessa, die Freundin der Geister. Dort erlebte eine dunkelhaarige Schönheit an der Seite ihres gutaussehenden Geisterfreundes Harold haarsträubende Abenteuer. Und etwas in der Art hatte ich auch erwartet nach der Ankündigung, dass es ein Buch – und dann auch noch aus dem Genre der phantastischen Romantik – über ein Mädchen gab, das plötzlich Geister sehen kann. Selten habe ich so erfreulich geirrt. Ja, Chloe sieht Geister, und als sie zum ersten Mal ihre Tage bekommt, bricht diese Gabe über sie herein. Sie sieht tote Leute, überall. Kein Wunder, dass sie durchdreht und mit einem hysterischen Anfall ihre ganze Schule aufscheucht. Und natürlich glaubt ihr niemand, sie wird verrückt gehalten und in eine Wohngruppe für psychisch auffällige Jugendliche eingewiesen.

An der Stelle habe ich dann erstmal sehr die Stirn gerunzelt. Es ist ja nicht so, dass ich nicht das eine oder andere wüsste über Schizophrenie und Psychosen und hysterische Anfälle, und es kam mir wirklich sehr unrealistisch vor, dass ein Arzt nach einem einzigen Ausraster mit Wahnvorstellungen gleich die Diagnose ‘Schizophrenie’ stellen sollte, vor allem, wenn, wie die Ärztin selbst sagt, verschiedene wichtige Kriterien für Schizophrenie überhaupt nicht erfüllt sind. Wenn ich daran denke, wie ich vor meinem Arzt saß, der mir gerade ein Schizophreniemedikament verschrieben hatte, und ihn zitternd gefragt habe, ob das heißt, dass ich jetzt schizophren bin… Nein, dafür ist das viel zu früh, eine Psychose kann jeder mal bekommen, selbst der Gesündeste, ich soll mir keine Sorgen machen – und selbst jetzt, nach jahrelanger Behandlung, kann mir keiner so genau sagen, ob ich jetzt schizophren bin oder nicht, Hauptsache, die Medikamente wirken. Hat hier die Autorin nicht anständig recherchiert? Hat sie das Ganze für die Leserschaft vereinfacht? Keine Angst, das wird noch aufgelöst. Wenige Fragen von mir – und ich stelle viele Fragen – waren am Ende des Buches noch offen.

Auch der vermeintliche Zufall, dass in einem Wohnheim für knapp mehr als ein Halbdutzend Jugendliche gleich mehrere mit übernatürlicher Begabung aufeinandertreffen, wird erklärt. Ebenso, warum Chloe ausgerechnet in diesem Heim landet. Je weiter das Buch voranschreitet, desto mehr Fragen konnte ich abhaken, und was am Ende noch übrigblieb, ist vermutlich damit zu erklären, dass Autorin oder Verlag den jugendlichen Lesern zu wenig zutrauen: Dass nämliche eine Cineastin, die Regisseurin werden möchte und nicht auf Arthouse, sondern Horrorfilm spezialisiert ist und so ziemlich jeden Zombiefilm der ganzen Welt kennt, noch nie das Wort ‘Nekromant’ gehört haben sollte, kann ich mir nicht vorstellen. Die – durchaus sehr nette – Szene, in der Chloe danach googelt und, bevor sie aus der Wikipedia zitiert, auf zahlreiche Diablo 2-Fanseiten und Rollenspieler stößt, scheint eingefügt worden zu sein, um auch unbescholtenen Vierzehnjährigen diesen Begriff beizubringen.

Jetzt habe ich die Twilight-Serie nie gelesen, nur eine Reihe von Vorurteilen bezüglich der Charakterbeschreibung der Hauptfiguren. Aber das heißt nicht, dass jetzt jedes Buch, das im weitesten diesem Genre zuzuordnen ist, auch genauso stereotyp arbeiten muss. Chloe ist ein zu klein geratene Fünfzehnjährige mit Fusselhaar und Sprachfehler (sie stottert bei Aufregung), und keiner der verkommenden Jungs hat das Zeug zum schönen Strahlemann, stattdessen beschreibt die Autorin so liebevoll Akne und Körpergeruch, dass man sich schon rückwirkend wünscht, doch lieber auf eine reine Mädchenschule gegangen zu sein. Auch die psychischen Defekte der Mitinsassen werden typisch, treffend, aber vor allem zurückhaltend beschrieben. Natürlich gibt es auch die hysterische Zicke, aber auch sie bleibt dabei glaubwürdig; die Pyromanin steckt nicht permanent die Vorhänge in Brand, und der Junge mit den unkontrollierten Gewaltausbrüchen hat am Ende selbst das größte Problem damit. Die Jugendlichen sind keine Freaks, sie werden nicht vorgeführt, sondern so dargestellt, dass sich auch unauffällige und gesunde Leser mit ihnen identifizieren können.

Schön sind auch die Stellen, in denen Chloe selbst nicht weiß, ob jemand, den sie sieht, nun Geist oder Lebendig ist: So begegnet sie im Hof einem kleinen Mädchen mit Korkenzieherlocken und Rüschenkleid, einem der typischsten Geister, die man aus Film und Gruselliteratur kennt, und nimmt vorsichtig Kontakt auf – nur damit kurz darauf die Mutter der Kleinen erscheint, um das Kind dafür zu schelten, dass es noch nicht zu ‘diesen Leuten’ gehen soll. So bleibt es auch für den Leser spannend und wird niemals voraussehbar. Und den Schluss, um ihn mal als solchen zu bezeichnen, habe selbst ich nicht vorhergesehen, und das, obwohl ich Großmeisterin im Plotdurchschauen bin und es so viele dezente Hinweise darauf gegeben hat, und vor allem, weil nur mit diesem Ende meine Zweifel am Buch wirklich aus dem Weg geräumt werden konnten. Ich war perfekt vorbereitet auf eine Enttäuschung, und dass dies keine werden sollte, konnte ich erst einmal nicht glauben.

Das Buch endet mit einem wirklich fiesen Cliffhänger, und ich kann gar nicht sagen, wie sehr mich das gefreut hat. Nicht, weil ich es als Leserin so sehr liebe, wenn ein Buch mitten im Satz endet, und es ist Samstagnacht und ich bekomme den zweiten Band frühestens am Dienstag, beileibe nicht – aber weil ich als Autorin gerne mit Cliffhängern arbeite. Letztes Jahr hat mir ein Lektor das um die Ohren gehauen von wegen, das kann man so nicht machen, und alle Beispiele, die ich bringen konnte – so viele Fantasybücher habe ich gelesen in meinem Leben, die alle so fließend von Band zu Band ineinander übergingen, dass Cliffhänger unvermeidbar waren – stammten aus den frühen neunziger Jahren oder waren noch älter. Jetzt, endlich, habe ich ein aktuelles Beispiel, noch dazu einen Bestseller: Und das heißt für mich, sofern ich alle drei Teile gleichzeitig abliefere, können auch die ersten beiden Teile meiner Fälscher-Trilogie mit Cliffhängern aufhören. Jawohl

So lerne auch ich stets dazu. Auch das Buch einer ‘New York Times’-Bestsellerautorin, auch ein Buch aus dem Genre der phantastischen Romantik (wobei, Romantik gibt es eigentlich nicht, aber man muss dem Verlag die Möglichkeit geben, ein romantisches Mädchengesicht aufs Cover zu drucken) kann toll sein und mich begeistern. Wenn das meine Zielgruppe ist, dann habe ich sie jetzt schon lieb. Leute, die solche Bücher lesen, sind mitnichten geschmacksverirrt und werden vielleicht auch meine Werke mögen. Und da sitze ich nun, fiebere meiner Amazon-Bestellung entgegen, weil ich doch unbedingt wissen muss, wie es weitergeht. Band Drei habe ich gleich mitbestellt, ich bin ja lernfähig, und hoffentlich-hoffentlich-hoffentlich endet der dann nicht auch noch mit einem Cliffhänger. Denn dann müsste ich wirklich lange warten, bis es weitergeht. Und das würde ich vermutlich nicht ertragen.

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