bookmark_borderMargery Allingham: Polizei am Grab

In seinem dritten Abenteuer verirrt sich Albert Campion nach Cambridge, und dieses Gefühl der Verirrtheit zieht sich durch das ganze Buch, obwohl man meinen sollte, dass hier jeder, Albert eingeschlossen genau da ist, wo er hingehört. Aber der hat nicht nur sein Faktotum Lugg zuhause gelassen, niemand meldet sich mit einem launigen »Aphrodite Kleisterwerke« am Telefon, niemand klaut Fahrräder oder bricht beiläufig irgendwo ein – nein, Campion steckt mitten im Sumpf der intellektuellen High Society, als gehöre er nirgendwo anders hin. Man kennt ihn. Die alte Hausherrin redet ihn gelegentlich mit Rudolph an, seinem richtigen Vornamen (den Nachnamen erfahren wir auch hier hartnäckig nicht), und er hat keinen Grund, den Schwachsinnigen zu spielen – niemand ist da, um es ihm abzukaufen, hat ihn doch ein alter Studienfreund um Hilfe gebeten. Vieles, eigentlich alles, Albertesque fehlt in diesem Buch, und mit ihm der Witz. Polizei am Grab ist ein intelligenter und gut geschriebener Krimi voller interessanter Persönlichkeiten, aber leider ein Buch, das mit seinen Vorgängern nicht mithalten kann.

Vielleicht liegt es am Setting: Das verknöcherte Cambridge kann nicht mithalten mit dem ländlichen Charme von Gefährliches Landleben und Der Hüter des Kelchs. Vielleicht ist ein einfacher verschwundener Onkel und ein bisschen Mord auch einfach zu wenig für den guten Albert, der seine Freunde und Leser längst an das organisierte Verbrechen und die großen Gangsterbosse gewöhnt hat. Vielleicht gibt es einfach zu wenig haarsträubende Action. Vielleicht wollte aber auch die Autorin ihre Vielseitigkeit beweisen, und zeigen, dass sie mehr kann, als intelligente Schenkelklopfer zu liefern.… Weiterlesen “Margery Allingham: Polizei am Grab”

bookmark_borderJean Webster: Lieber Feind

In Daddy Langbein hatte Jean Webster bereits einen Teil ihres revolutionär-sozialistischen Gedankenguts zu einem Bestseller verarbeiten können, aber sie hatte noch mehr zu sagen, insbesondere, was die Erziehung und Haltung von Waisenkindern angeht – und wurde 1915, drei Jahre nach dem Erfolgs-Briefroman, die Fortsetzung Lieber Feind veröffentlicht. Wiederum in das Gewand eines Mädchenbuchs und Briefromans gekleidet, setzt die Geschichte ein geschätztes Jahr nach Daddy Langbein ein und stellt Judys beste Collegefreundin Sallie MacBride in den Mittelpunkt. Aber wo das erste Buch neben aller Sozialkritik noch vor Witz sprühte, herrscht hier vor allem ein scharfer Kampfgeist, und alles in allem muss gesagt werden, dass Dear Enemy dem Vorgänger nicht das Wasser reichen kann.

Sallie MacBride, Tochter aus gutem Hause, hat nach dem College nicht viel zu tun, was ihrer hohen Bildung gerecht würde – die Freundschaft mit einem aufstrebenden jungen Politiker genügt ihr nicht – und lässt sich auf eine wagemutige Herausforderung ein: Das John-Grier-Heim, Kinderstätte ihrer nun ebenso glücklich wie reich verheirateten Freundin Judy, nach Fortgang der alten Leiterin (nie wird klar, ob sie nun pensioniert oder entlassen wurde) in eine pädagogisch-liebevolle Mustereinrichtung zu verwandeln. Plötzlich sieht sie ihre hehren Ideale im Konflikt mit der Wirklichkeit: Hundert Waisenkinder, die nicht einmal gelernt haben zu spielen, geschweige denn glücklich zu sein, verknöcherte Angestellte, für die früher sowieso alles besser war, und einem knurrigen schottischen Kinderarzt, dessen Lieblingsthema Erbkrankheiten und Trunksucht sind. Es spricht für das Buch, dass Sallie nicht supernannygleich das heruntergewirtschaftete Haus auf Vordermann bringen will, sondern gleich die Brocken wieder hinschmeißen, aber natürlich bleibt sie, auch wenn Gordon, ihr lieber Politiker, ihr arg zusetzt, dass sie doch zurückkommen soll.… Weiterlesen “Jean Webster: Lieber Feind”

bookmark_borderElizabeth Kim: Weniger als nichts

Warum Menschen mit psychischen Erkrankungen Bücher schreiben, liegt auf der Hand: Der Prozess des Schreibens hilft, die Narben in der Seele aufzuarbeiten, sich literarisch von Kindheit, Krankheit und Trauma zu distanzieren, und am Ende steht das befreiende Gefühl, endlich einmal alles losgeworden zu sein. Aber warum muss das verlegt werden? Und warum gelesen? Tatsächlich gibt es einen großen Markt für Leidensberichte. Das können nicht nur andere Betroffene sein, die sich aus diesen Werken Lebenshilfe versprechen und sich sagen »Wenn sie das geschafft hat, kann ich das auch« – so viele Betroffene gibt es dann doch nicht, zum Glück. Den Großteil machen also wohl die Sensationstouristen aus. Leute, die sich plötzlich richtig gut fühlen, wenn sie lesen oder sehen, dass es anderen noch viel viel schlechter gibt.

Während der Lektüre von Weniger als Nichts habe ich mich mehrmals gefragt, warum ich mir das Buch überhaupt ausgeliehen habe, warum ich mir seinen schwerverdaulichen Inhalt antue – Neutrales Interesse? Mitleid? Identifikation? Sensationsgier? Ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen. Aber ich habe es gelesen, und gelitten, bis zum Schluss.

Niemand weiß, wie alt Elizabeth Kim wirklich ist, nicht einmal sie selbst. Ihr Geburtstag, sogar ihr Geburtsjahr, sind so unbekannt wie der Name, den sie vielleicht einmal hatte, bevor sie durch Adoption Elisabeth Kim wurde. Ihr Leben war schrecklich, und als habe es von Anfang an darauf abgesehen, eines Tages zu einem Buch zu werden, wurde es immer und immer schrecklicher. Dieses Buch erzählt das Leben einer Unperson – geboren in der Umgebung Seouls als Tochter eines Amerikaners und eine Koreanerin, die sich nicht nach der Schande des Verlassenwerdens und der Schwangerschaft nicht dramatisch das Leben nahm, wie uns die Mme.… Weiterlesen “Elizabeth Kim: Weniger als nichts”

bookmark_borderBerte Bratt: Meine Tochter Liz

Ich war immer voreingenommen gegen Berte Bratt. Berte Bratt, die in der Stadtbücherei drei Regalbretter und im Schneiderbuch-Katalog ganze Seiten im Alleingang füllte, war für mich immer die Definition jener Art Mädchenbuch, die ich nicht las – ich mutmaßte, dass diese Geschichten von Liebe handeln mussten, und so etwas Reaktionäres und Konventionelles lehnte ich doch entschieden ab. Jugendbücher sollten über aktuelle Probleme informieren, nicht von Liebe handeln! So war Berte Bratt also mein Feindbild, ohne dass ich je ein Buch von ihr gelesen hatte, und ohne dass ich irgendjemanden gekannt hätte, der das tat. Dennoch hielt ich es für abscheulichen Mainstream. Ich schreckte nicht davor zurück, Enid Blytons gesammelte Werke zu lesen… Manchmal glaube ich, ich war ein komischer Mensch. Meistens glaube ich, ich bin es immer noch. Dennoch habe ich jetzt ein Buch von Berte Bratt gelesen. Und de fakto war das Werk nicht einmal schlecht.

Ich bin, wie so oft, durch Zufall darangekommen, als Büchereipraktikantin. Immer wieder kommt es vor, dass freundliche Menschen der Stadtbücherei Bücher spenden, und diese enden dann entweder in der Wühlkiste oder werden in den Bestand eingearbeitet. Die Spende, mit der ich es zu tun hatte, enthielt einen Berg Mädchenbücher, die gesammelten Werke Berte Bratts, und das ist nicht mehr unbedingt das, was die jungen Mädchen des neuen Jahrtausends noch gerne lesen. Vor allem nicht mit diesen authentischen Siebziger-Jahre-Titelbildern. Der Großteil dieser Bücher wird also wohl in der Wühlkiste gelandet sein. Es macht wenig Sinn, Zeit und Material und Regalplatz aufzuwenden für ein Buch, das keinen Leser mehr findet, selbst wenn es eine Spende war.… Weiterlesen “Berte Bratt: Meine Tochter Liz”

bookmark_borderMargery Allingham: Der Hüter des Kelchs

Ob Der Hüter des Kelchs tatsächlich der direkte Nachfolger von Gefährliches Landleben ist, kann ich nicht genau sagen – er ist 1931 erschienen, wie auch Polizei am Grab, und die unterschiedlichen Bibliographien lassen jedem der beiden Bücher mal den Vortritt. Ich hoffe jedoch, die richtige Reihenfolge gewählt zu haben, und die Tatsache, dass Alberts Liebeskummer noch frisch ist, scheint mir Recht zu geben.

Auch ich hatte Kummer in Zusammenhang mit diesem Buch, musste ich es doch, auch wenn ich schon mehr als zwei Drittel davon verschlungen hatte, in München zurücklassen und bekam es erst am vergangenen Wochenende wieder, von Christoph ausgelesen. Und um mir wirklich noch weiter voraus zu sein, hatte er auch noch Polizei am Grab und Süße Gefahr fertig – Alberts Persönlichkeit scheint besorgniserregend auf ihn abzufärben. Doch ich konnte mich revanchieren: Wie durch Zufall hatte ich vergessen, ihm die weiteren Bände mitzubringen, so dass ich jetzt ein paar Wochen Zeit habe, mich durch die komplette Allingham zu arbeiten. Danach werde ich ihm die Bücher gerne für eine Weile überlassen. Solange es nicht wieder zehn Jahre dauert, bis ich sie noch einmal lese…

Wieder haben wir es mit dem Organisiertem Verbrechen zu tun – drunter macht der kleine Albert (wie er sich selbst gern nennt) es ja nicht. Diesmal also ein internationaler Ring von Kunstdieben, die exquisiteste, unbezahlbarste Kunstschätze (ja, ich weiß, unbezahlbar kann man nicht steigern, aber ist es nicht ein schönes Wort?) im Auftrag unsagbar reicher Sammler stehlen. Ein netter Ansatz, der Raum für viele, viele Bücher bietet.… Weiterlesen “Margery Allingham: Der Hüter des Kelchs”

bookmark_borderAlyssa Brugman: Zeig dein Gesicht

Vielleicht hätte ich dieses Buch besser nicht gelesen. Es betrifft mich inhaltlich zu sehr, und vieles aus meiner Jugend kocht wieder hoch, vor allem folgende symptomatische Anekdote: Ich war fünfzehn Jahre alt und bummelte mit meiner besten Freundin durch die Stadt. Bis sie plötzlich zu mir sagte: »Du, macht es dir was aus, gerade mal eben auf die andere Straßenseite zu wechseln? Da kommen ein paar Freunde von mir, und die sollen mich nicht mit dir sehen.« – Was sollte ich tun? Ich gehorchte, ohne zu widersprechen. Sie war meine einzige beste Freundin, und ich konnte mir nicht erlauben, sie zu verlieren. Sollte ich mich nicht sogar geehrt fühlen, dass sie sich überhaupt mit mir abgab? Aber das tat ich nicht.

Zeig dein Gesicht ist die Geschichte einer solchen Freundschaft. Ein sensibles Buch, das ein sensibles Thema anrührt: Cliquenbildung und Schulhofmobbing. Ein Buch, das aufrütteln und sensibilisieren will. Es richtet sich an die Täter, nicht an die Opfer. Es ist nicht für mich geschrieben. Und ich hätte es auch besser nicht gelesen.

Hippe Cliquen-Queen freundet sich mit dem meistgehassten Freak der Schule an, bringt ihre Clique gegen sich auf und verrät die Freundschaft zugunsten des Status Quo – so lässt sich die Handlung schnell auf den Punkt bringen. Megan Tuw, die Heldin und Icherzählerin, macht es einem mit ihrer oberflächlichen blasierten Art nicht leicht, sie zu mögen – es wird aber schnell klar, dass sie im Vergleich zu ihren noch oberflächlicheren, blasierteren Freundinnen noch so eine Art »gute Zicke« darstellt, eingebettet in ein liebe- und verständnisvolles Fortschrittselternhaus.… Weiterlesen “Alyssa Brugman: Zeig dein Gesicht”