Anne Fine: Die Steinmenagerie

Eigentlich hätte ich es besser wissen müssen, als nochmal ein Buch von Anne Fine zu versuchen, genauer gesagt: Als nochmal zu versuchen, ein Buch von Anne Fine gut zu finden. Sie ist eine hochgelobt Autorin, bekannt für die Romanvorlage zum Film Mrs. Doubtfire – was ich nicht gelesen habe, da ich den Film selbst schon unerträglich fand – und verschiedene andere Adoleszenzromane, die sich allesamt nicht einigen können, ob sie nun für Kinder oder für Erwachsene geschrieben sind. Als Jugendliche las ich ihr Werk Kuh-Lotto und war über alle Maßen enttäuscht davon. Ähnlich erging es mir nun mit der Steinmenagerie.

Der direkte Vergleich, dem sich dieses Buch stellen musste, waren Joan Aikens Schattengäste: Beides sind Erwachsenenbücher mit jugendlichem Helden, beide erschienen erstmals 1980, beide wurden in auf Deutsch vom Diogenes-Verlag herausgegeben, der einen sehr guten literarischen Ruf hat und sich den auch etwas kosten lässt. Ebenso schön wie streng aufgemacht und somit eindeutig nicht auf Kinder abzielend, gut übersetzt – und da enden die Parallelen dann leider auch schon. Denn leider ist Die Steinmenagerie, wie ich es nach meinen Erfahrungen hätte erwarten müssen, ein schnarchlangweiliges Stück Zeitverschwendung: Nicht nur für den Leser, sondern eigentlich schon für die Autorin. Sehr böse muss ich sagen: Anne Fine ist die Sally Field der Literatur, und ihr Buch ein verzichtbares Stück Betroffenheitskino.

Pubertierender Jugendlicher trifft auf dem Gelände eines Irrenhauses, in den Ruinen eines verlassenen Zoos, auf zwei kauzige Aussteiger, die seiner schwermütigen Tante zu neuem Lebensmut verhelfen – so schnell lässt sich die Geschichte zusammenfassen, und schon muss man sie nicht mehr lesen: Man fülle einfach alle Lücken mit Stereotypen aus. Der mürrisch-gereizte Junge, seine überspannten Eltern, die rustikalen Späthippies – sie mit Sockenschuss, er mit Dulderqualitäten – und die überarbeiteten Pfleger und Ärzte… ein paar Binsenweisheiten dazu, am Schluss garnieren mit einem Holterdipolter-Happyend, bei dem nur der Reiter des Königs fehlt: Fertig ist das Buch. Schnell gelesen und schnell wieder vergessen – wenn man nicht hinterher so viel Zeit damit verbringen müsste, sich zu ärgern!

Die Steinmenagerie ist das, was ich ein Vegetarierbuch nenne – eines, wo man den erhobenen Zeigefinger der Autorin mitten ins Auge gestoßen bekommt. So viel will sie uns sagen: Wie schlecht es den Tieren geht, die in Zirkussen, Zoos oder Irrenhäusern gehalten werden (gut, letzteres sind wohl doch irgendwie Menschen, aber die Parallelen müssen gezogen werden!). Es hilft nichts, dass dieser Vegetarismus sich auch noch zu tarnen versucht, dass die im Verlauf der Geschichte dargebotenen vegetarischen Speisen übelschmeckend und mit Mäusekot garniert sind, dass eine positiv dargestellte Figur sich nach Speckwürfeln sehnt: Immer noch tönt mir mit jeder Seite entgegen: Nierchen auf Toast sind bah und böse. Da ist es tröstlich, dass das Buch zumindest nicht so viele Seiten hat. 168 ist per se schon nicht so viel, und dann ist die Schrift auch noch extrem groß – wenig Buch für teures Geld, würde ich sagen, wenn ich es nicht irgendwann mal in einer Wühlkiste erstanden hätte. Und selbst das war vielleicht schon zu viel.

Mich interessieren Geschichten, die in Irrenhäusern spielen – Geisteskrankheiten, psychische Erkrankungen, so tragisch sie auch sein mögen, bieten Autoren und Lesern einen reichen Nährboden, und der geschlossene Mikrokosmos einer Heilanstalt verstärkt diese Möglichkeiten noch. Aber wie soll der Autor an die Kranken herangehen? Man soll ja nicht über sie lachen, sie dürfen nicht vorgeführt werden wie Tiere im Käfig – also: Alles muss ganz behutsam erfolgen. Geisteskranke, die irgendwelche sinnlosen Sätze von sich geben, die kreischende Wutausbrüche haben oder lautstark ihre eigene Welt leben, könnten allzu voyeuristisch rüberkommen. Besser bedient man sich da des Prinzips vom Edlen Wilden: Wer gar nicht mehr redet, ist krank, wirkt beklemmend und stört doch niemals das ästhetische oder soziale Empfinden des Lesers… So muss auch Anne Fine gedacht haben, und sie hängte Tante Chloe ein Vorhängeschloss vors Maul: Nun ist sie irr und sagt nichts mehr, ist das nicht prima?

Nein, das ist nicht prima. Das ist nur feige. Das ist gewollt und nicht gekonnt. Kranke schauen nicht nur verwirrt und ängstlich drein und halten sich so lange brav im Hintergrund, bis man gnädig den literarischen Scheinwerfer auf sie richtet und ihnen eine Handlung erlaubt. Wer Angst davor hat, Literatur auf Kosten Kranker zu machen, sollte sie ganz aus seinen Büchern raushalten oder sich intensiv mit ihnen beschäftigen, sie ernst nehmen, sie Die Steinmenagerie lesen lassen und sie selbst fragen, was sie davon halten und ob sie sich in dem Buch wiederfinden. Und dann ein Buch schreiben wie Veronika beschließt zu Sterben – was, anderes als dieses hier, ein unverzichtbar wertvolles Buch ist, das dringend mal wieder von mir gelesen werden sollte.

Dass Anne Fine eine sprachlich talentierte Autorin ist, möchte ich ihr nicht absprechen. Sie schreibt nur die falschen Bücher, zumindest für mich. Die vollmundigen Pressestimmen, die der /Verlag wie immer begierig abdruckt, sprechen dafür, dass The Stone Menagerie zumindest anderen Lesern, sogar Kritikern, gefallen hat. Nur ich kann diesem Werk nichts entnehmen, das ich nicht vorher selbst reingelegt hätte. Und so muss ich sagen, dass man aus der Idee eine Menge hätte machen können. Der Titel ist schön. Der Klappentext lügt nicht, und doch lässt er ein ganz anderes, viel besseres und intensiveres Buch erwarten. Eine Freundschaft in einem Irrenhaus – das ist so ein zerbrechliches Gespinst, eine zarte kleine Geschichte, in der kein Reiter des Königs etwas verloren hat und auch nicht die Sprache der Blumen oder Mäuseköttel, die in vegetarischer Suppe schwimmen: Mir wäre lieber, Anne Fine hätte mich dieses Buch schreiben lassen, anstatt es selbst zu tun. Dann wäre das Ergebnis vielleicht nicht grundsätzlich besser – aber zumindest wäre es etwas, das mir jetzt gefallen würde. Und in der Zeit, die ich nun mit Mich Ärgern verbringe, kann ich bestimmt auch ein Werk von 168 Seiten Großdruck zu Papier bringen.

Zumindest weiß ich jetzt, dass ich um den Rest von Anne Fines hochgelobtem Oeuvre wohl einen Bogen machen werde. Einen großen.

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