Margot Bérard: Das Haus der Kolibris

Dieses Buch ist schon lange in meinem Besitz, seit ich es 1994 oder 1995 für eine Mark in der Wühlkiste der Stadtbücherei erstanden habe. Was jetzt kein unglaubliches Schnäppchen ist, denn der aufgedruckte Ladenpreis beträgt auch nur drei Mark (West, muss man dabei sagen, denn das Buch ist von 1977). Es ist wieder so ein Fall von Schmöker ohne großen Qualitätsanspruch, dunkles Familiengeheimnis und altes Haus inbegriffen. Oder auch kein Schmöker, denn dafür ist Das Haus der Kolibris zu dünn – mit nur 145 Seiten stellt es wohl ein Mittelding zwischen Heftchenroman und richtigem Buch dar. Und natürlich habe ich es dann nie gelesen – aber auch das stimmt nicht ganz. Ich habe das Impressum gelesen, mich gewundert, gelacht, und so kam das Werk zu zweifelhaftem Ruhm, als ich es im Fach Bibliotheksrecht als Fallbeispiel zu einer Fachfrage zitierte. Hier ist das Zitat:

»Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehen und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden; der Wiederverkauf ist verboten.« Hat sich die Stadtbücherei also strafbar gemacht, als sie es mir verkaufte? Natürlich nicht. Dieses Passus ist nichtig. Eine Bücherei darf jedes Buch, das sie erworben hat, auch verleihen. Und natürlich darf jeder ein Buch, das er nicht mehr haben will, wiederverkaufen. Vielen Dank, Professor Peters! Das habe ich nie vergessen. Und auch der Erich Pabel Verlag, in dessen Reihe Gaslicht dieser Titel erschienen ist, hätte das eigentlich wissen müssen. Aber man kann es ja wenigstens mal versuchen.
So kam es jedenfalls, dass dieses Buch zwischen all den anderen ungelesenen Büchern einen Sonderstatus innehatte. Und jetzt – schon! – habe ich es dann auch gelesen.

Da ich davon ausgehe, dass die Autorin mit Sicherheit nicht Margot Bérard heißt – das ist nämlich der Titel eines Kinderportraits von Renoir, und das wäre nun wirklich zu viel des Guten – kann ich noch einen Schritt weiter gehen und diese Margot gleich in einen fiktiven Dialog mit ihrer Lektorin verwickeln:
Lektorin: »Ich habe hier gerade ihr neues Manuskript durchgearbeitet, Margot, und es gefällt mir schon ganz gut. Wir bringen es als Band 10 der Reihe Gaslicht heraus, und als Titel nehmen wir Das Haus der Kolibris
Margot: »Aber im ganzen Buch kommen keine Kolibris vor!«
Lektorin: »Das ist mir klar. Aber sie werden noch irgendwo welche einbauen können, oder? Ohne Titel verkauft sich ein Buch so schlecht. Und wir können es doch schlecht Das halbverfallene Schloss, das sich in nichts von den anderen halbverfallenen Schlössern aus den anderen Mysterybüchern unterscheidet nennen!«
Margot seufzt und erweitert das Buch um ein paar Sätze, in denen Kolibris durch die Kapellenruine schwirren, in der gerade die Waffenschmuggler ein wüstes Gelage abhalten. Und damit sich niemand wundert, was die Kolibris da nun verloren haben, packt sie noch geschickt ein paar Schwalben und Paradiesvögel hinzu. Für ornithologische Recherchen bleibt ihr keine Zeit. Um das Buch zu schreiben und abzuliefern, hat sie insgesamt nicht mehr als vier Wochen. Und solche Details interessieren sowieso niemanden.

Das Genre ist alt. So alt, dass Jane Austen es bereits um 1798 herum mit Northanger Abbey parodierte. Damals nannte man es in England ‘Gothic Novel’, in Deutschland ist heute der Begriff ‘Mystery’ dafür gebräuchlich. Es ist das Abenteuerbuch für die Frau, und da eine Frau ins Haus gehört, spielen auch diese Bücher in Häusern, alten, heruntergewirtschafteten Schlössern und Herrenhäusern, in denen die alte Herrschaftsfamilie sich an vergangenen Reichtum klammert und ihre dunklen Geheimnisse vor der unbescholtenen jungen Gouvernante zu verbergen sucht. Das Haus der Sieben Elstern walzt dieses Thema auf mehreren hundert Seiten ermüdend aus, dem Namensvetter Das Haus der Kolibris reichen dafür knackige 145 Seiten.
Und ich muss sagen, ich bin schon schlechter unterhalten worden.

Gut, der Stil ist nicht berauschend, die billige Aufmachung auch nicht, der lieblose Satz greift bereits der zwanzig Jahre später anstehenden Invasion der Deppenapostrophe vor, aber bei einem Buch, das nur knapp einem Schicksal als Groschenheft entronnen ist, soll mir das Wurst sein. ‘Romane um Liebe und Geheimnis’ ist der Untertitel der Gaslicht-Reihe, deren weitere Bände ich mir wohl auf die Dauer auch anschaffen werde, denn sie bieten doch alles, was mein kleines Herz erfreut. Auch wenn die Geheimnisse nur allzu schnell durchschaut sind – wenn das Buch nur 145 Seiten hat, bleibt auch der Heldin wenig Zeit für Begriffsstutzigkeit. Liebe gibt es im Haus der Kolibris weniger, aber dafür knisternde Erotik – zwischen Frauen. Kein Sex, natürlich, aber wenn die geisteskranke Alice wieder die Gelegenheit nutzt, um sich die Kleider vom Leib zu reißen und nackend über den Strand zu tollen oder bei Kerzenlicht ihre wohlgeformten Brüste liebkost, wenn sich zwischen der Pflegerin Francine und der Ärztin Rachel zarte Bande spinnen, ist das schon fast eine Freude zu lesen.

Lektorin: »Wir haben da nur noch ein Problem mit Ihrem Buch.«
Margot: »Was denn noch?«
Lektorin: »Es kommen keine Männer darin vor.«
Margot: »Aber da ist doch Marc!«
Lektorin: »Marc ist der Schurke und so dämonisch-unsympathisch, wie es nur möglich war. Unsere Leser wollen Liebe und Romantik, keine Lesbenliteratur!«
Wieder beugt sich Margot gehorsam ihrer Lektorin und baut noch schnell Jérôme ein, einen Mann ganz nach meinem Geschmack – ein Expolizist, dem der Charme des Heruntergekommenen anhaftet. So sei es Francine verziehen, dass sie ihn dann am Ende – natürlich – heiratet.
Alles in allem ist Das Haus der Kolibris dann ein nettes Stück Schundliteratur geworden. Eine Stunde lesen, keine Fragen stellen, weiter im Text. Danach kann man das Buch eigentlich schon wieder wegwerfen. Verleihen und Verkaufen darf man’s ja nicht.

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