John Harwood: Das Haus der vergessenen Bilder

So eine Bahnreise nach München ist immer ein Grund, vier Bücher innerhalb von wenigen Tagen zu lesen: Zwei auf der Hinfahrt, zwei auf der Rückfahrt. Soweit der Plan, und so war ich diesmal gut eingedeckt mit Literatur. Das Haus der vergessenen Bilder sollte das erste auf der Rückfahrt sein, dann wurde es aber das einzige: Ich hatte seine Dicke unterschätzt. Aber auch seine Spannung.

Wie bei allen Büchern, deren deutscher Titel mit Das Haus der/des … beginnt, muss ich aber auch hier wieder über die Namenswahl meckern: Dieses hier heißt im Original The Ghost Writer, und dieser Titel ist wirklich perfekt gewählt, treffend und vielseitig. Vergessene Bilder passt dagegen nicht so. Zwar spielen Bilder im ganzen Buch eine große Rolle, alle in die Rahmenhandlung eingebauten Geistergeschichten handeln irgendwie von Bildern, und trotzdem: Im Vergleich zum Original ist es nicht das Wahre. Allerdings hätte das Buch mit einem anderen, weniger stereotypen Titel, nicht in mein Mystery-Beuteschema gepasst und wäre nicht so ohne weiteres von mir ausgeliehen worden. Ich war ja wieder auf der Suche nach geheimnisvollen Häusern und nichts nach irgendwelchen Geistergeschichten. So aber kam ich endlich einmal auf meine Kosten, und dazu noch an ein wirklich gutes Buch.

An Stereotypen soll es hier nicht mangeln: Aber ich bin sicher, dass sich zu jedem verfallen-verlassenen Haus ein dunkles Geheimnis auftreiben lässt, denn ohne zwingenden Grund lässt man ein schönes altes Haus mitsamt Bibliothek, Möbeln und Bildern nicht einfach so verwildern. Vielleicht bin ich traumatisiert: Jeden Tag fuhr mich mein Schulbus an ebenso einer alten verlassenen Villa vorbei, und jeden Tag nahm ich mir vor, dort einmal hineinzugehen – Mitschüler, die es getan hatten, berichteten von den alten Möbeln, von Fotoalben, die auf dem Boden herumlagen… Die Chance ist vertan, das Haus wurde inzwischen abgerissen, und heute steht dort ein Supermarkt.

Auch Gerard wächst auf mit dem Wunsch, eines Tages Staplefield zu besuchen, das alte Haus, in dem seine Mutter ihre Kindheit verbrachte. Doch es ist ihm unerreichbar fern, viel ferner, als mir die graue Villa meiner Kindheit – und das nicht nur, weil Staplefield irgendwo in England liegen muss, während er selbst in Australien aufwächst. Aber die Art, wie seine Mutter allen Fragen ausweicht, nachdem Gerard beim Stöbern in ihrem Zimmer ein altes Foto gefunden hat, macht ihm und dem Leser Hunger auf mehr. Und so beginnt ein literarisches Vexierspiel, das mit Erzählungen, Briefen und den Geistergeschichten von Gerards Urgroßmutter so brillant jongliert, dass kaum jemand mehr sagen kann, was nun die Wirklichkeit ist – am wenigsten Gerard selbst. Darüber hinaus ist das Buch durch und durch gutgeschrieben und übersetzt, auch die in die Handlung eingebetteten Novellen, die liebevoll dem Fin de Siècle-Stil und dem der Wirtschaftskrise nachempfunden sind – ja, der Autor denkt sogar daran, Viola mit ihren Geschichten altern zu lassen! Das macht Lust auf mehr – leider hat Harwood außer The Ghost Writer nur Sachbücher geschrieben. Über Literatur, natürlich.

Vieles hat mich am Haus der vergessenen Bilder erfreut, vor allem aber der Beruf des Helden: Der ist nämlich Bibliothekar. Nicht, damit er besonders weltfremd und kauzig rüberkommt, sondern, weil er damit die geheime Kunst des Bibliothekars beherrscht: Die Recherche. Und die Anspielungen aufs Bibliothekswesen sind so beiläufig und so fundiert, dass ich schon mutmaßte, der Autor selbst sei ein Kollege. Nein, er ist nur ein ehemaliger Universitätsdozent (Literatur, natürlich), und weiß offenbar, wie man eine Bibliothek benutzt. Routiniert sitzt Gerard im Lesesaal der British Library vor dem Mikrofichelesegerät oder versucht noch im heimatlichen Australien über Fernleihe die Werke seiner Urgroßmutter aufzutreiben, und mein Lesevergnügen wächst mit jeder Seite. Gute Bibliotheksschilderungen bekommt man sonst nur von Bibliothekaren, aber John Harwood ist ohne jeden Zweifel auch ein Buchmensch. Was ein Kompliment sein soll.

Den eigentlichen Plot habe ich schnell vorausgesehen, aber das will nichts heißen – ich bin einfach gut darin, Plots zu durchschauen, auch die komplizierteren, und dieser hier war durchaus kompliziert. Aber wenn man dann am Ende angekommen ist, hat man fast Lust, es noch mal von vorne zu lesen, um zu schauen, ob wirklich alles zusammenpasst. Jedes kleine Detail der vergangenen 350 Seiten macht dann erfreulichen Sinn, weswegen ein detektivischer Leser wie ich es auch nicht schwer hat, während des Lesens eins und eins zusammenzuzählen: Also mehr ein kalkulierbarer denn ein durchschaubarer Plot.

Ich habe trotzdem nicht noch einmal von vorne angefangen, denn plötzlich, während ich noch ganz gefesselt war und erfreut, endlich mal ein wirklich gutes Mystery-Buch gelesen zu haben, ging mir ein logischer Bruch auf, mit dem der ganze raffinierte Plot wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel. Hier muss ich gemein sein und die entscheidende offenbleibende Frage für mich behalten: Denn wenn ich eines nicht will, dann anderen Lesern den Spaß verderben. Aber woher wusste sie…?

Von diesem kleinen Wermutstropfen einmal abgesehen – oder gesetzt den Fall, ich habe irgendwo etwas überlesen, und es waren doch keine Fragen mehr offen – ist Das Haus der vergessenen Bilder ein empfehlenswertes Buch für alle, die klassische Schauergeschichten, alte Häuser, und insbesondere Bibliotheken lieben, von einem Autor, von dem man sich weitere Bücher gerne wünschen darf.

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