R.J. Anderson: Knife

Sagte ich, ich liebe Feen? Ich liebe Feen! Und als ich dieses Buch sah, mit dem schönsten aller Cover, gestaltet vom Meister Brian Froud persönlich, gab es kein Halten mehr. Kleine süße Flatterfeen, die von Blüte zu Blüte schweben mit ihren filigranen Flügeln… In ihrer Vielseitigkeit sind die Feen hier bei ihrer fotogensten Form angekommen. Es gibt sie als Gartenschmuck sogar bei meinen Eltern, als Wandornamente, Windspiele, Gemälde, Titanias Palast im Legoland und natürlich auf den berühmten ‘Cottingley Fairies’-Photofälschungen. Doch auch wenn sie die bekannteste Art der Feen sein mögen, im Roman waren sie bisher unterrepräsentiert, schon weil man als Autor wie Leser Angst haben musste, an einem Zuckerschock zu erliegen. Einzelexemplare, wie Tinkerbell in Peter Pan kann man ja noch ertragen, schon weil Tink ein selbst- und eifersüchtiges Geschöpf von nur sehr geringer Süße ist. Doch süße kleine Feen als Handlungsträger einer ganzen Romanreihe? Kann das gutgehen?

Es kann. So, wie R[ebecca] J. Anderson die Geschichte angegangen ist, muss man keine Angst vor Diabetes haben, und auch nicht vor einer Überdosis Pink oder Glitzer. In diesem Buch sind die Flatterfeen nämlich nicht besonders süß sind. Eher sauer. Und anders als die von mir früher heimlich verehrten Flower Fairys ist das Eichenvolk in Knife gänzlich unverkitscht. Vielleicht war es etwas vorschnell, nur weil ich in einem anderen Bücherblog davon gelesen hatte, gleich alle drei Bände zu kaufen, nur weil mir die Cover so gut gefielen, aber nachdem ich jetzt das erste Buch gelesen habe, bereue ich das überhaupt nicht. Und auf den vierten Band, der nächsten Frühling erscheinen soll, freue ich mich jetzt schon. Erwartet hatte ich ein nettes Buch über Feen. Aber was ich dann in Wirklichkeit bekommen habe, war vor allem eines: Ein Buch über Menschen, und über die Menschlichkeit.

Andersons Feen leben wie ein Schwarm in einem alten Eichenbaum, mit einer Königin und Arbeiterinnen, aber sie sind immer noch Individuen, und die junge Heldin Bryony – später Knife – das letzte Kind, das dem Stamm geboren wurde, ist nach Ansicht von manchen eine Spur zu individuell. Eine tolle Figur, neugierig und trotzig, stark und zerbrechlich, und sie hat das Glück, dass ihre Geschichte auf Englisch erzählt wurde: Heißen alle Feen, bevor sie sich einen Ehrennamen verdienen, nach Pflanzen und Blumen, ist sie doch besser dran mit dem Namen Briony, als wenn sie Zaunrübe genannt werden müsste, weswegen auch in der deutschen Fassung dieser Namen unübersetzt geblieben ist und das Buch den etwas sperrigen Namen Bryony: Rebellin unter Feen bekommen hat. Das ist natürlich viel weniger knackig als Knife, aber wie die Heldin musste sich auch dieses Buch seinen Kampfnamen verdienen, die Erstausgabe erschien noch mit deutlich nichtssagenderem Cover unter dem Titel Spell Hunter, und so hätte ich es wohl keines zweiten Blickes gewürdigt. Und so wäre mir wirklich etwas entgangen.

Wer sich immer wieder darüber ärgert, dass in den Büchern zu wenig eigenständige Frauenfiguren vorkommen, der wird hier einen Ausgleich finden. Bis auf den Menschen Paul und seinen kaum jemals auftretenden Vater sind alle Figuren weiblich – zwangsweise, denn männliche Feen gibt es keine. Fortpflanzung findet nicht statt, wenn man davon absieht, dass eine sterbende Fee immerhin ein Ei zurücklässt, aus dem eine neue Fee heranwachsen kann, aber noch nicht einmal das ist sicher: Die schreckliche Krankheit, die im Eichenvolk umgeht und sie vor ihrer Zeit verwelken lässt, raubt dem Stamm nicht nur seine Gegenwart, sondern auch seine Zukunft. Und so abgestoßen Knife auch von der Vorstellung ist, wie sich Männlein und Weiblein paaren, muss sie lernen, dass auch ihr Volk einst so gelebt hat und eines Tages wieder so leben muss, will es nicht untergehen.

Und das bietet viel Raum, in dem sich die Handlung entwickeln kann. Ist es erst die Geschichte einer ebenso willensstarken wie halsstarrigen jungen Frau, die sich ihren Platz in der Gesellschaft erkämpft und endlich in der Lage sein will, ihren Stamm vor den Angriffen der bösen Krähe zu verteidigen, und die dafür die Menschenwelt gleich miterobern muss, um sich ihr eisernes Messer zu verdienen, geht es doch eigentlich um viel wichtigere Dinge: Indem aufgezeigt wird, was eine Fee ausmacht, versteht man als Leser am Ende, was ein Mensch ist. Da treffen zwei Mentalitäten aufeinander – die gefühlskalten kleinen Dinger, die nicht lieben können und sich eher ein Bein ausreißen, als sich mit einem »Danke« auf ewig in die Schuld einer anderen Person zu stellen, die ihre Kunst verloren haben und mit ihnen ihre Kultur, und die nur noch gerade so eben überleben, kaum noch mehr als Tiere; auf der anderen Seite die großen, zarten, mitfühlenden Geschöpfe, beides verbunden in einer Symbiose, die über die bloße Inspiration für kreative Geister weit, weit hinausgeht.

Und so entwickelt sich eine fragile Freundschaft zwischen Knife und Paul, dem jungen Künstler, der nach einem Unfall gelähmt ist und die Welt, sich, seine Eltern, die Kunst und alles andere verachtet. Beide müssen mit ihren Behinderungen leben, als Knife nach einem Krähenzusammenstoß mit zerfetzten Flügeln in Pauls Schoß landet, und auch hier schafft das Buch es, den Kitsch zu umschiffen: Dass auch die Überwindung einer Körperbehinderung im Kopf anfängt, aber nur mit Willenskraft nichts ungeschehen zu machen ist, muss die Kämpferin Knife schmerzlich erfahren, und dass sie dann im entscheidenden Moment ihre Magie findet, klingt erst einmal unsäglich, ist aber tatsächlich ein ganz und gar bezaubernder Moment.

Es hat nämlich schon seine Gründe, dass das Eichenvolk seine Magie verloren hat, die dunkle Geschichte des Stammes wird nach und nach aufgedeckt, die dunklen Machenschaften der Königin haben mich in ihrer Auflösung sehr erstaunt, und wer meine Rezensionen schon länger verfolgt, weiß, wie sehr ich mich freue, eine Plotwendung nicht vorhersehen zu können. Am Ende ist die Geschichte von Knife und Paul erzählt, aber die Geschichte des Eichenvolkes fängt gerade erst an und bietet so viel Raum für die Fortsetzungen, dass es regelrecht danach schreit – aber ohne den Leser mit dem unbefriedigten Gefühl zurückzulassen, nur ein halbes oder drittel Buch gelesen zu haben. Nein, auch nach reiflicher Überlegung finde ich nichts, was ich diesem Buch vorwerfen könnte.

Und entsprechend begeistert fällt dann auch mein Fazit aus. Ein Buch, das sich etwas traut – Blumenfeen, ausgerechnet! – und es schafft, mit alten Motiven eine neue Geschichte zu erzählen. Ein Buch, in dem es eine grimmige Bibliothekarin gibt und viele andere liebevoll gezeichnete, ganz und gar unniedliche Gestalten, das gutgeschrieben ist und uns ermöglicht, auch unsere eigene Welt mit Feenaugen zu sehen, und in dem eine einzelne Eiche eine ganze Welt sein kann. Kurz: ein Buch, das ich unbedingt weiterempfehle und das hält, was sein Cover versprochen hat. Letztlich ist tatsächlich das Cover, das mich doch zum Kauf bewegt hat, das Einzige, was ich an diesem Buch auszusetzen habe: Dunkelblau mit Glanzeffekt – wirklich, auf nichts sieht man Fingerabdrücke besser. Und so habe ich fast so viel Zeit mit Polieren verbracht wie mit Lesen, wollte ich doch, dass mein Buch auch von außen so toll aussieht wie die Geschichte, die es erzählt. Und das ist immer noch ein Kompliment.

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