Roald Dahl: Charlie und die Schokoladenfabrik

Zu Roald Dahl habe ich ein leicht gespaltenes Verhältnis. Als Kind konnte ich relativ wenig mit ihm anfangen und entdeckte ihn später als brillanten Zyniker mit Küsschen Küsschen. Ich halte ihn für einen guten, sogar einen herausragenden Autoren, aber ich glaube, es gibt bessere. Sein Sarkasmus wirkt manchmal aufgesetzt und sein Humor ist nicht immer der meine – ich mag es böse, aber nicht grausam; ich mag Nonsens, aber keine Albernheit. Nach der Verfilmung von Hexen Hexen beendete ich unsere Beziehung bis auf weiteres, um ihn Jahre später durch eine andere Verfilmung wiederzuentdecken: Charlie und die Schokoladenfabrik.

Ich bin mir sicher, dass ich dieses Buch schon Anfang der Neunziger einmal gelesen habe, aber es kann mich nicht wirklich vom Hocker gerissen haben, sonst wäre es mir besser im Gedächtnis geblieben. Der Film dagegen – der neue Film, mit Johnny Depp als Willy Wonka – begeisterte mich von vorn bis hinten: Brillante Story, Schauspieler, Regie, Einfälle… Und ich beschloss, das Buch noch einmal zu lesen. Am besten im englischen Original, aber ich nehme, was ich bekomme, und da die Bücherei es nur auf Deutsch hatte, so ist das immer noch besser als gar nichts. Ich las es also wieder nur auf Deutsch, und vielleicht ist das der Grund, warum ich jetzt sagen muss: Dies ist einer der seltenen Fälle, wo der Film besser ist als das Buch. Und zwar deutlich.

Die Geschichte ist simpel: Der bettelarme Charlie bekommt durch Glück die Gelegenheit, Willy Wonkas sagenumwobene Schokoladenfabrik zu besichtigen, gemeinsam mit vier weiteren Kindern, allesamt ebenso verzogen wie unerträglich, jedes von ihnen eine wandelnde Todsünde: Augustus Gloop (Völlerei), Verucca Salt (Habgier), Violet Beauregarde (Hochmut) und Mike Teevee (Trägheit), während der herzensgute Charlie alle acht Kardinalstugenden in sich vereint. Im Verlauf des Buches fällt jedes schlimme Kind dem eigenen Laster zum Opfer, bis nur Charlie übrigbleibt und aus Wonkas Händen die Schokoladenfabrik erbt.

So weit, so trivial – ähnliche Moralwerke waren im neunzehnten Jahrhundert beliebt, und mit den neckischen Liedern, die zu jedem Sündenfall gesungen werden, eignet sich Charlie and the Chocolate Factory durchaus als würdiger Nachfolger des Struwwelpeter oder, dieweil englisch, der Cautionary Tales des Hillaire Belloc. Aber Roald Dahl wäre nicht Roald Dahl, wenn er nicht diese Geschichte nur als Alibi nutzen würde, um seine abgedrehten Hirngespinste und Schokoladenfantasien in eine Rahmenhandlung zu verpacken. Und das macht das Buch dann wieder zu einem lesenswerten Werk.

Sicher leidet die deutsche Ausgabe unter der Übersetzung von Inge M. Artl. Sie ist nicht schlecht (auch wenn die Lieder, separat übersetzt von Hans Georg Lenzen, ein wenig hoppeln), aber manche Wortspiele sind leider erst dann zu verstehen, wenn man sie sich im Kopf ins Englische zurückübersetzt. Was nicht gut ist – Dahl benötigt, ebenso wie Lewis Carroll, ein besonders feines Händchen. Und ein Buch wird nicht besser, indem man die Helden mit deutschen Namen versieht – so mutiert Verruca Salt (Verruca ist im Englischen die Warze) zu Verruschka Salz (natürlich, eine Verruschka hatte doch jeder von uns schon einmal!), und Mike Teevee zu einem Micki Schießer – beides völlig sinnlos und kein Ersatz für verpfuschte Wortspiele wie »Eckige Bonbons, die rund aussehen« (was ich hier nicht rückübersetze, denn ich habe lange dafür gebraucht und will keinem den Spaß nehmen). Das Witzigste an der deutschen Fassung ist noch das Cover, auf dem eine lila Wonkatafel mit lila Kuh abgebildet ist, und das W in Wonka nur zufällig aussieht wie ein auf dem Kopf stehendes M… Ansonsten möchte ich jedem Leser empfehlen, sich auf die Suche nach der Originalausgabe zu machen.

Zweimal wurde das Buch verfilmt – recht frei 1971 unter dem Titel Willy Wonka and the Chocolate Factory, wo man die bösen Dahlschen Oompa-Loompa-Songs durch Ohrwurm-Ufftata ersetzte, einen Spionagenebenplot einführte und – was das eigentlich verwerfliche ist – Charlie wie alle Kinder gegen Wonkas Verbote verstoßen ließ, so dass es schier unbegreiflich erschien, warum ausgerechnet dieses freche Blag und nicht eines der anderen frechen Blagen am Ende die Fabrik erben soll – nur weil er arm ist? Was für eine Moral soll das sein?

Die von sentimentalen Puristen (namentlich jeden, die am ersten Film mitgewirkt hatten) geschmähte Neuverfilmung von 2005, wie erwähnt von Tim Burton und mit Johnny Depp, folgt dem Buch mit liebevoller Akribie und ohne sich zu große Freiheiten herauszunehmen. Dort, wo der Film Änderungen vornimmt, sind sie von Vorteil, zum Beispiel die Reduzierung der begleitenden Elternteile auf eines pro Kind. Im Buch herrscht dagegen ein großes Gewusel – ganze neun Erwachsene und fünf Kinder folgen dem kauzigen Willy Wonka durch die Fabrik, aber leider hat der Autor vergessen, sie mit Persönlichkeiten zu versehen. So ist es durchweg egal, wer was sagt, von Charlie, seinem Großvater und Wonka einmal abgesehen – ein undefinierbares Meer an Erziehungsberechtigten, zäh und undurchsichtig wie die braune Soße im Schokoladenfluss. Auch die Figur des Schokofabrikanten selbst wirkt im Film überzeugender – im Buch ist er ein verträumt-verpeilter Einsiedler, im Film ein rechter Freak, wobei es hinterfragbar ist, ob Tim Burton ihn zwingend mit dieser tragischen Kindheit ausstatten musste.

So empfehle ich das Buch jetzt primär Leuten, die den neuen Film mochten und um die Kenntnis der Literaturvorlage ergänzen wollen, und Leuten, die Alice’s Adventures in Wonderland mit Genuss gelesen haben. Alle anderen sind aufgefordert, diese beiden Voraussetzungen erst einmal nachzuholen, denn sie sind essentiell für ein glückliches, phantasievolles Leben. Verzichtet dagegen auf den 1971er-Film, denn er ist eine Enttäuschung und wird dem Buch nicht gerecht. Und wer sich das Buch dann in der Bücherei ausleiht, sollte darauf achten, nicht allzu viele Schokoladenflecken hineinzumachen.

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