Jean Webster: Lieber Feind

In Daddy Langbein hatte Jean Webster bereits einen Teil ihres revolutionär-sozialistischen Gedankenguts zu einem Bestseller verarbeiten können, aber sie hatte noch mehr zu sagen, insbesondere, was die Erziehung und Haltung von Waisenkindern angeht – und wurde 1915, drei Jahre nach dem Erfolgs-Briefroman, die Fortsetzung Lieber Feind veröffentlicht. Wiederum in das Gewand eines Mädchenbuchs und Briefromans gekleidet, setzt die Geschichte ein geschätztes Jahr nach Daddy Langbein ein und stellt Judys beste Collegefreundin Sallie MacBride in den Mittelpunkt. Aber wo das erste Buch neben aller Sozialkritik noch vor Witz sprühte, herrscht hier vor allem ein scharfer Kampfgeist, und alles in allem muss gesagt werden, dass Dear Enemy dem Vorgänger nicht das Wasser reichen kann.

Sallie MacBride, Tochter aus gutem Hause, hat nach dem College nicht viel zu tun, was ihrer hohen Bildung gerecht würde – die Freundschaft mit einem aufstrebenden jungen Politiker genügt ihr nicht – und lässt sich auf eine wagemutige Herausforderung ein: Das John-Grier-Heim, Kinderstätte ihrer nun ebenso glücklich wie reich verheirateten Freundin Judy, nach Fortgang der alten Leiterin (nie wird klar, ob sie nun pensioniert oder entlassen wurde) in eine pädagogisch-liebevolle Mustereinrichtung zu verwandeln. Plötzlich sieht sie ihre hehren Ideale im Konflikt mit der Wirklichkeit: Hundert Waisenkinder, die nicht einmal gelernt haben zu spielen, geschweige denn glücklich zu sein, verknöcherte Angestellte, für die früher sowieso alles besser war, und einem knurrigen schottischen Kinderarzt, dessen Lieblingsthema Erbkrankheiten und Trunksucht sind. Es spricht für das Buch, dass Sallie nicht supernannygleich das heruntergewirtschaftete Haus auf Vordermann bringen will, sondern gleich die Brocken wieder hinschmeißen, aber natürlich bleibt sie, auch wenn Gordon, ihr lieber Politiker, ihr arg zusetzt, dass sie doch zurückkommen soll. Aber Buch ist Buch, und so bleibt Sallie, bringt doch noch supernannygleich das Haus auf Vordermann, und entscheidet sich am Ende natürlich gegen den Politiker und für den knurrigen Arzt.

Was bei Daddy Langbein funktionierte – der einseitige Briefroman aus der Feder einer jungen Frau – wirkt hier eher unglücklich: Denn während Judys Briefe Monologe waren, auf die nie eine Antwort kam, geht Sallie in ihren Briefen (an Judy, Gordon und ihren “Feind”, Dr. McRae) auch auf deren jeweilige Schreiben ein, ohne dass der Leser diese selbst zu Gesicht bekäme. Die Alltagsschilderungen aus dem Waisenhaus lesen sich auch erwartungsgemäß deutlich weniger amüsant als die aus dem Mädchencollege, und stellenweise droht die Geschichte trotz Kampfgeist und gut recherchiertem Hintergrund komplett zu verkitschen. Nicht nur werden die schwierigsten, bockigsten Waisenkinder erfolgreich in Adoption vermittelt, dem armen Doktor wird noch eine völlig überflüssige Jane-Eyre-Geschichte angehängt: Nichts gegen Tragik, aber das Buch gibt es schon!

Dazu kommt, dass Lieber Feind gut doppelt so dick ist wie das andere Buch – als habe die Autorin geahnt, dass ihr nicht mehr viel Zeit zum Leben blieb (sie starb nur ein Jahr später im Kindbett), packte ihre Message knüppeldick in die Geschichte und brachte lieber drei Beispiele zu viel als eines zu wenig. Merkt auf: Kinder brauchen Liebe, Frischluft, Individualität, Bildung und Entfaltungsraum – sicher nur allzu wahr, und das nicht nur 1915. Hinzu kommen aber die zahlreichen Ausführungen über erbliche Asozialität, die heute eher unangenehm aufstoßen, und die gängige Ansicht, dass Geisteskranke und Behinderte zu ihrem eigenen Besten in Pflegeeinrichtungen untergebracht gehören –

Nichtsdestotrotz ist es ein gut geschriebenes und gut lesbares Buch, das in seiner deutschen Übersetzung ein wenig darunter zu leiden hat, dass die gälischen Ausbrüche des Schotten und der Irin auf Plattdeutsch wiedergegeben sind (aber was soll die Übersetzerin auch tun? Bayrisch oder Kölsch käme genauso seltsam rüber) und sich gut liest. Nur im direkten Vergleich zu Daddy Langbein kann es nur verlieren. Aber da ich die beiden Bücher in einem Doppelband besitze, werde ich sie auch in Zukunft immer im Doppelpack lesen. Und das rate ich auch allen anderen.

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