M.E. Kerr: Der Mädchenturm

Ein abgelegenes Internat, in dem seltsame Dinge vorgehen. Nachts hallen spitze Schreie durch den verufensten Teil des Gebäudes, den alten Mädchenturm. Lehrer verhalten sich seltsam, und Schüler auch. Wird es Flanders Brown gelingen, das Geheimnis der Charles-Schule zu lüften? … Warum habe ich dieses Buch nie früher gelesen? Mit dieser Inhaltsangabe hat es doch eigentlich alles, was ich liebe und schon immer geliebt habe.

Und man kann nicht sagen, ich hätte zu Der Mädchenturm keine Beziehung gehabt – jede Woche montags, zwei Jahre lang, habe ich die obere Kante des Buchrückens mit der Zeigefingerspitze angestupst und dabei »Ker, Ker« gemurmelt. Es war meine Aufgabe in der Stadtbücherei, den Bereich Jugendbücher in Ordnung zu halten, und dazu gehörte natürlich auch die Kontrolle, dass jedes Buch im Regal an seinem alphabetisch richtigen Platz stand. Ich weiß auch, dass ich dieses Buch ab und an herausgenommen, angeschaut, für langweilig befunden, und wieder weggestellt habe. Warum nur konnte ich es dieses Mal nicht genauso machen? Aber unser Wiedersehen endete mit einer Ausleihe, die ich noch bereuen sollte. Denn Der Mädchenturm von M.E. Kerr ist vor allem eines: Todlangweilig.

M.E. Kerr, das bekannteste Pseudonym der Autorin Marijane Meaker, gehört zu den wichtigsten Autoren zeitgenössischer amerikanischer Jugendliteratur, seit sie 1972 ihr erstes Buch veröffentlichte, und schreibt bis heute. Ob ihre Bücher auch von echten Jugendlichen gelesen werden oder in die Kategorie »Die Ewige Schullektüre« fallen (so wie in Deutschland Peter Härtling), ist schwer zu sagen – ich habe immer zu den Kindern gehört, die diese Bücher trotzdem lasen. Sie wurde in verschiedene Sprachen übersetzt und hat natürlich auch zahlreiche Preise für ihre Bücher erhalten.

Der Mädchenturm ist das erste Buch, das ich von ihr gelesen habe, und es scheint nicht besonders typisch für sie zu sein: Wie ich bevorzugt sie männliche Hauptfiguren für ihre Bücher, und ihr Problem scheint das gleiche zu sein wie bei mir: Eine zu große Distanz zu weiblichen Protagonisten, vielleicht aus Angst, sie können einem zu ähnlich werden. Aber dieses Buch, das auf Kerrs eigenen Internatserfahrungen basiert, hat eine Ich-Erzählerin, von der man leider sagen muss, dass sie komplett hölzern, fern und langweilig erscheint. Das ganze Buch kommt komplett ohne Gefühle aus, und das unbefriedigende offene Ende hinterlässt einen faden Beigeschmack – ich ertappte mich dabei, dass ich gar kein Interesse hatte zu erfahren, wie es mit Flanders, Cardmaker und Agnes nun weitergehen soll.

Das Buch, mitnichten ins Mystery-Genre einzuordnen, erzählt die Geschichte des vierzehnjährigen Scheidungskinds Flanders Brown. Der Vater ist Psychologe und forscht in Sachen Sex, die Mutter ist mit einem anderen durchgebrannt, so kommt das halbwegs verkorkste Mädchen ins Internat, bis der Vater sie wieder gebrauchen kann. In der Charles-Schule knüpft Flanders lockere Freundschaften und wird gezwungen, Farbe zu bekennen, als die grandiose, aber jenseits der Schmerzgrenze fromme Physiklehrerin Miss Blue aus dem Kollegium gemobbt wird. Leider kommt das eigentlich interessante Thema – ausgerechnet der Atheistenclub engagiert sich bis zur Kriminalität für die katholische Lehrerin – kommt nie in Fahrt und plätschert seicht vor sich hin; offenbar ist das einzige, worüber Flanders sich aufregen kann und mag, die verräterisch fremdgegangene Mutter. Dass es am Ende hier zu einer Aussprache kommt und Flanders auch erkennen muss, dass ihr Vater nicht wirklich besser ist, ist der einzige sinnvoll geschlossene Handlungsbogen des Buches.

Wieder einmal folgt die Hauptrollenverteilung dem Mainstream – die eigentlich interessanten Figuren, die atheistische Pfarrerstocher Cardmaker und die gehörlose Agnes, bleiben Nebenfiguren, wohl weil sie zu wenig Identifikationspotenzial bieten. Und so muss ich wieder einmal bei der Feststellung bleiben, dass die meisten Bücher über Außenseiter nicht für Außenseiter geschrieben sind.

Warum die deutsche Fassung den Titel Der Mädchenturm trägt, ist nicht nachzuvollziehen – war es die Übersetzerin Irmela Brender, immerhin selbst eine mehrfach ausgezeichnete Jugendbuchautorin, oder doch der Verlag? In jedem Fall hat dieses Buch nichts mit dem sogenannten Mädchenturm in Istanbul zu tun. Und auch sonst kommt kein Gebäude dieses Namens in dem Buch vor. Der betreffende Turm heißt Klein Dorrit, nach einem Werk von Dickens, so wie auch alle anderen Flügel des Internats nach Dickensbüchern heißen. Ihn ausgerechnet Mädchenturm zu nennen, hätte auch wenig Sinn: Es ist ja ein reines Mädcheninternat. Das einzige männliche Wesen im Haus ist der Mann der Schulleiterin.

Davon abgesehen, ist die Übersetzung gut und einer Brendel würdig, auch wenn ich mich jedes Mal sträube, den Spitznamen der Schulleiterin als A.F.F.E zu lesen (einem Akronym ihrer Vor- und Nachnamen) – ich bin sicher, im amerikanischen Original heißt sie A.P.E, und so habe ich das beim Lesen immer intern rückübersetzt. Ich mag es nicht, wenn Namen eingedeutscht werden, und das gilt auch für Spitznamen. Auf Englisch heißt das Buch jedenfalls Is That You, Miss Blue? – und auch das ist, zugegeben, ein ziemlich beknackter Titel.

Stellenweise ist die Beiläufigkeit, mit der die Probleme in der Geschichte angekratzt werden, auch angenehm – weder wird die Liebesbeziehung zweier Lehrerinnen groß thematisiert, noch wird Agnes’ Taubheit und die entstehenden Kommunikationsprobleme zu sehr in den Mittelpunkt gerückt, der Leser muss sich damit ebenso schnell abfinden wie die Menschen im Umfeld der Behinderten.
Aber am Ende soll das Buch doch nur ein wenig lohnender Vertreter seiner Gattung bleiben, der ebenso gut im Regal hätte stehen bleiben können und sicher nicht ohne Grund auf dem deutschen Markt lange vergriffen ist.

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