Margo Kelly: Unlocked

Ich war schon über dreißig, als bei mir die erste Psychose diagnostiziert wurde. Ob sie zustande kam, weil ich drei Tage und Nächte nicht geschlafen hatte, oder ob ich drei Tage und Nächte nicht schlief, weil ich eine Psychose hatte, kann ich nicht sagen, aber es ging über Schlaflosigkeit und Erschöpfung weit hinaus. Ich hörte Stimmen. Ich roch Dinge, die nicht da waren. Ich war der festen Überzeugung, mein linker Arm wäre ein implantiertes Fremdorgan. Der Nervenarzt verschrieb mir ein Antipsychotikum. Auf dem Beipackzettel stand »zur Behandlung von Schizophrenie.« »Heißt das, ich bin schizophren?«, fragte ich. Mein Arzt meinte, so eine Diagnose könnte man schlecht nach nur einer Psychose stellen, aber es wäre möglich, auch wenn ich schon ein bisschen alt für einen ersten Ausbruch wäre. Aber das Medikament schlug an, die Psychose ging nach ein paar Tagen wieder, und alles war gut-

Mehrere Psychosen später lebe ich mit der Diagnose »Schizo-Affektive Psychose« – das ist, sinngemäß, Schizophrenie plus Depressionen. Meine letzte Psychose ist Jahre her. Ich nehme meine Antipsychotika regelmäßig, die Depressionen machen mir im Schnitt mehr Probleme, aber unterm Strich lebe ich doch ein vollwertiges, erfülltes Leben. Das war jetzt ein langer Exkurs, wo ich eigentlich ein Buch rezensieren will, aber mir war diese Vorbemerkung wichtig, damit klar ist, warum dieses Buch, Unlocked von Margo Kelly, mich derart zornig machen konnte. So zornig, dass ich jetzt gegen einen meiner Rezensentengrundsätze verstoßen und Sachen aus der Auflösung des Buches spoilern werde, denn es muss sein, um meine Kritik verständlich zu machen. Wer nicht gespoilert werden möchte, der lese bitte diese Rezension nicht zu Ende (ich warne nochmal gesondert, wenn die Spoiler kommen).

Hannah ist siebzehn und hat alles. Sie ist hip und schick, gut in ihre Clique integriert, hat ihren Freund Manny und beginnt ihr letztes Schuljahr mit der Aussicht, danach in Princeton zu studieren wie seinerzeit ihr verstobener Vater. Der war ihr zwar peinlich wegen seines immer unberechenbareren Verhaltens, und die Mutter spricht nicht über ihn, aber nach Princeton will sie trotzdem. Dann lässt sie sich auf der Kirmes hypnotisieren, und ihr Leben gerät aus den Fugen: Sie hat Wahnvorstellungen, baut einen Autounfall, der für den Freund ihrer besten Freundin tödlich endet, und wird bei der anschließenden Untersuchung mit der Vermutung konfrontiert, dass die Hypnotisierung eine Psychose getriggert haben könnte und sie selbst schizophren ist.

Bücher, in denen Schizophrenie thematisiert wird, interessieren mich, aber ich muss sie mit Vorsicht genießen – so sie denn überhaupt genießbar sind. Wie kaum eine Krankheit ist Schizophrenie mit Stigmata behaftet – man denke an den gefährlichen Geisteskranken, der nicht weiß, was er tut, und trotzdem als Mordmaschine gestoppt werden muss. Viele denken an eine gespaltene Persönlichkeit, was nichts mit der echten Krankheit Schizophrenie zu tun hat, aber in kaum einem Buch ist mir eine schizophrene Figur begegnet, die medikamentös gut eingestellt ist, die nicht schizophren im Hauptberuf ist, sondern wie ich ein erfülltes Leben lebt und eben keine ständige Gefahr für sich und die Gesellschaft ist.

Unlocked fällt ganz klar in die Kategorie »Stigma«. Nichts ist schlimmer als die Vorstellung, Hannah könnte wirklich schizophren sein. Keinmal sagt der behandelnde Arzt: a) dass eine einzelne Psychose jedem passieren kann und nicht bedeutet, dass sie wiederkommt, b) dass Schizophrenie gut behandelbar ist und sie damit genauso gut in Princeton studieren kann wie ohne, und c) dass nicht jeder Fall von Schizophrenie mit Selbstmord des Betroffenen endet. Schlimmer noch: Sie erfährt, dass ihr Vater, was die Mutter niemals erwähnt hat, selbst schizophren war und nicht an einem Unfall gestorben ist, sondern sich das Leben genommen hat. Die Krankheit als Schandfleck, über den nicht gesprochen werden darf, der am besten auch vor den engsten Familienangehörigen versteckt werden muss: So hilft man als Autorin, Stigmata zu beseitigen. Nicht.

Auch als Hannah dann endlich – viel, viel, viel zu spät, wenn man schaut, wie schnell bei einer Psychose reagiert werden muss – Antipsychotika verschrieben werden, geht das Buch nicht auf die lebensrettenden Wirkungen ein, sondern listet nur die möglichen Nebenwirkungen auf, wobei sie sich besonders an der Option, dass die Brüste zu laktieren beginnen, hochzieht – ohne darauf einzugehen, dass bei so einer Reaktion (been there, done that) der behandelnde Arzt das Medikament wechselt und der Milchfluss sich dann auch wieder legt. Auch dass eine durchaus positiv dargestellte Figur erklärt, dass die westliche Medizin Hannah ja nur mit Psychopharmaka vollpumpen will, malt kein positives Bild von den Medikamenten, ohne die Schizophrenie wirklich in vielen Fällen tödlich verlaufen kann und die jedes Jahr unzählige Leben retten, angefangen mit meinem eigenen.

Zu dem Zeitpunkt halluziniert Hannah bereits seit Tagen, und auch sonst verhält sie sich so unberechenbar, wie das nur irgendwie geht – sie sieht Dämonen, ihr Zimmer wird umgeräumt, sie sieht und riecht die Küche brennen, wagt es nicht mehr zu duschen oder sich die Haare zu kämmen und trägt ihren BH über dem T-Shirt, damit man schon von Weitem sieht, dass sie den Verstand verloren hat – »Enter Ophelia, distracted«. Eine stationäre Einweisung, die bei so einem dramatischen Verlauf angemessen wäre, steht jedoch nie zur Debatte, auch scheint ihr Vater für seine eigene Erkrankung keinerlei ärztliche Hilfe bekommen zu haben. Natürlich nimmt Hannah die Medikamente dann nicht. Und auch sonst tut sie nicht viel, um Licht in die rätselhaften Sachen, die um sie herum passieren, zu bringen.

Dabei bauen ihre Freunde ihr goldene Brücken. Als sie aus ihrer hippen Clique rausgemobbt wird und gezwungen ist, ihren Stundenplan umzustellen, landet sie im Kurs »Kunst für Fortgeschrittene«, und auch wenn sie da von Tuten und Blasen keine Ahnung hat, wird sie gleich von der Lehrerin und den Mitschüler:innen mit offenen Armen aufgenommen. Ihre neuen Freunde, die Freaks und Ausgestoßenen der Schule, entpuppen sich als überaus hilfreiche Experten für Okkultismus, Verschwörungstheorien und Privatermittlung, also genau das, was Hannah in ihrer Not braucht, und schon hat sie ein Programm auf dem Laptop installiert, das bei Tag und Nacht ihr Zimmer observiert, um herauszufinden, wer da die Möbel umstellt und pinke Plüschelefanten platziert. Nur dass Hannah sich dann die so entstandenen Videos nicht anschauen mag. Täte sie es, wäre das Buch nur halb so dick, aber nein, Hannah gehört zu jenen Romanfiguren, die immer und grundsätzlich das Falsche tun, um den Plot sinnlos in die Länge zu ziehen.

Hannah ist auch eine Figur, die mir von Anfang an zutiefst unsympathisch ist in ihrer blasierten Oberflächlichkeit, und dass sie die Ich-Erzählerin ist, macht das nicht viel besser. Das Buch tut wenig, um sie sympathisch zu machen – bestenfalls empfindet man Mitleid mit ihr, aber selbst das hält sich in Grenzen, so wie sie sich gegen alle Versuche, sich helfen zu lassen, mit Händen und Füßen sträubt. Natürlich, sie ist nicht mehr sie selbst – aber warum hat sie keinerlei Hobbies, keinerlei Interessen jenseits von Shopping und ihrem Freund? Was finden Plug und seine Freunde aus dem Kunstkurs an ihr? Sie hat nichts zu bieten, nichts von Interesse, ist eine wandelnde Fassade und bleibt das selbst dann noch, als ihr Hippes Cliquenqueen-Verhalten durch Wie-sich-Klein-Fritzchen-den-Schizophrenen-vorstellt ersetzt wird.

Und jetzt komme ich zu den Spoilern, auch wenn ich die dramatischen Enthüllungen wirklich von Anfang an sehr offensichtlich und durchsichtig fand. Hannah ist natürlich gar nicht schizophren, der Hypnotiseur ist ein Psychopath und Stalker und hat sie in seiner Gewalt – und als das herauskommt … macht sich Erleichterung breit. So viel besser scheint es zu sein, dass Hannah missbraucht wird (auch sexuell), dass sie manipuliert wird und benutzt, um die Rachephantasien eines Mannes umzusetzen: Hauptsache, sie ist nicht schizophren! Und als sich dann herausstellt, dass auch ihr Vater überhaupt nicht schizophren war, sondern vom gleichen Mann in den Tod getrieben wurde, kann auch die Mutter sich endlich wieder die alten Familienfotos ansehen und ihren verstorbenen Mann wieder lieben. Und an der Stelle war ich drauf und dran, das Buch zu packen und in den Müll zu werfen. Ich habe noch nie ein Buch weggeworfen, aber hier habe ich mich wirklich maßlos geärgert – nur die Tatsache, dass ich es noch rezensieren wollte, hat mich bis zum Ende durchhalten lassen.

Nicht, dass sich das Ende dann sonderlich lohnen würde. Es gibt einen actionüberfrachteten Showdown, in dessen Verlauf der Schurke die Augen rollen und Monologe halten darf, und es liest sich wie ein Groschenheft, so billig erscheint das Ganze, so flach sind die Dialoge – das ganze Buch über reden die Figuren nicht wie lebendige Menschen, sondern als ginge es nur darum, für die Leser:innen Informationen zu vermittelt, aber nirgendwo wird das so fühlbar wie im Showdown. Ich habe Absätze daraus meinem Mann vorgelesen, um herauszufinden, ob ich mir das nur einbilde, aber die unfreiwillige Komik der wie Knallchargen agierenden Figuren hat auch ihn sofort angesprungen. Dabei ist das Buch durchaus spannend und flüssig zu lesen – es ist nur inhaltlich dermaßen ärgerlich, dass ich ihm keine gute Note ausstellen kann.

Aus mir unerfindlichen Gründen ist dann die dämonische Besessenheit keine Halluzination – nein, der Dämon ist echt, wabert herum wie schwarzer Rauch, als hätte die Autorin zu viel Supernatural gesehen, und weicht am Ende vor Hannahs neugewonnenem Selbstvertrauen, einem Mantra und einem Gebet zurück – eine völlig überflüssige Wendung, die das ohnehin schon ungeliebte Buch für mich dann endgültig über den Hai gehen ließ. Und selbst jetzt, wo ich das knapp über dreihundertseitige Buch zu Ende gelesen habe, weiß ich nicht, in welches Genre ich es einordnen soll. Angeschafft habe ich es mir in der irrigen Annahme, es wäre ein Urban Fantasy-Titel, und mit dem Dämon ist es das ja auch irgendwie, aber dieser Teil des Plots wirkt so aufgesetzt, so drangeklatscht, und Autorin Kelly – deren Debütroman Who R U Really? vor den Gefahren von Online-RPGs warnt – ordnet Unlocked auf ihrer eigenen Homepage als Thriller ein. Also Mystery? Es will nirgendwo so recht hinpassen, und nicht zu mir.

Sehr offensichtlich hat Kelly Unlocked nicht für mich geschrieben, oder für sonst jemanden, der/die selbst von Schizophrenie oder Psychosen betroffen ist. Zu grell malt sie das Horrorbild, dass diese Krankheit ein Todesurteil darstellt, dass sich die Betroffenen in ihrem Wahn unmöglich machen, alle Freunde verlieren bis auf die Verständnisvollsten, und zu groß ist das Aufatmen am Ende, dass Hannah gesund ist und auch keine genetische Anlage mitbringt, zu einem späteren Zeitpunkt vom todbringenden Wahn befallen zu werden. Für mich ein durch und durch ärgerliches Buch, das auch jenseits der Vorurteilen über Schizophrenie nicht überzeugen kann und dessen Plot an den Haaren herbeigezogen scheint. An dieser Stelle kann ich nur von der Lektüre abraten.

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