Tahereh Mafi: Furthermore

Seit ich im Alter von siebzehn, achtzehn Jahren Alice‘s Adventures in Wonderland zum ersten Mal auf Englisch gelesen habe – und verstanden, dass die uninsprierte Übersetzung, die ich als Kind gelesen hatte, dem Buch in keiner Weise gerecht wurde – ist das eines meiner absoluten Lieblingsbücher, und ich bin immer auf der Suche nach Kinderbüchern, die es damit aufnehmen können, die Wortwitz und Philosophie miteinander verbinden, vielleicht auch noch ein bisschen Humor mitbringen, und das ganze auch noch in schöner, poetischer Sprache: Solche Bücher gibt es, doch sie sind selten.

In  Catherynne M. Valentes Buch The Girl Who Circumnavigated Fairyland in a Ship of Her Own Making hatte ich einen würdigen Titel gefunden, es mit Alice aufzunehmen, zauberhaft und so zerbrechlich wie Herbstlaub, doch das hieß nicht, dass meine Suche da ein Ende gefunden hatte. Im Gegenteil: Von solchen Büchern kann ich gar nicht genug bekommen. Und als ich über Furthermore, ein Kinderbuch der iranisch-amerikanischen Autorin Tahereh Mafi stolperte, hoffte ich, das nächste Alice‘eske Kleinod gefunden zu haben. Ich wollte dieses Buch so sehr lieben, die Geschichte der im Wortsinn farblosen Alice, die auf der Suche nach ihrem verschwundenen Vater ein wundersames Land bereist, doch diesmal wurde ich nicht gänzlich überzeugt.

Wo mit Carrolls Alice und Valentes September kleine Mädchen aus der wirklichen Welt in eine Phantastische reisen, stammt Mafis Heldin – die, was mich etwas gestört hat, ebenfalls Alice heißt: Hier wäre etwas Eigenständigeres als die direkte Hommage besser gewesen – selbst schon aus einem magischen Land, und auch wenn in Ferenwood die Magie anders angewandt wird als in Furthermore, wirkt es doch wie die schwächere Kulisse, weil der Kontrast zu gering ist. Ferenwood ist magisch und bunt, und Furthermore ist magisch und bunt: das einzige, was weder magisch noch bunt erscheint, ist die junge Heldin selbst. Alice Alexis Queensmeadow, an der ihre blassgoldenen Augen der einzige Farbtupfer sind, sticht heraus, sieht nicht aus wie der Rest der Familie und fühlt sich unwillkommen und ausgestoßen, und das macht sie für eine Kinderbuchfigur ungewohnt bitter und als Charakter alles andere als farblos.

Ihr Gegenstück ist Oliver, der mit der Gabe der Überzeugung geboren wurde, ein charmanter Schwätzer, der aber vor Jahren Alice so tief bis ins Mark verletzt hat, dass sie nicht mehr länger zur Schule gehen mochte, und ebenso schwer tut sie sich, Oliver zu verzeihen und zu vertrauen – etwas, wozu er ihr leider auch wenig Grund gibt. Ich kann Alice nur zu gut verstehen, ich war in ihrem Alter vergleichbarem Mobbing ausgesetzt und habe den meisten meiner Peiniger auch mehr als fünfunddreißig Jahre später nicht verziehen. Aber natürlich müssen Alice und Oliver zusammenarbeiten, wenn sie nach Furthermore reisen, um Alices Vater zurückzuholen.

Letzteres ist zwar Alices Herzenswunsch, aber Olivers Aufgabe – jedes Kind in Ferenwood demonstriert im Alter von zwölf Jahren sein magisches Talent und bekommt dann eine Aufgabe auferlegt, die um so großartiger ist, je mehr das Talent begeistern kann – und an der Stelle offenbart das Buch dann ein großes Manko. Oliver war nämlich schon ein Jahr lang in Furthermore, kennt Sitten und Gebräuche und besitzt die Landkarten, die Alices Vater seinerzeit gemalt hat, als er selbst die Aufabe hatte, das Land Furthermore zu erfassen: Alice stolpert mit und versteht nichts von dem, was Oliver schon längst weiß, und wirkt dabei mehr wie Olivers Anhängsel als wie eine eigenständige Hauptperson. Erst, als es die Kinder in unbekannte Gefilde verschlägt, wo sich auch Oliver noch nicht auskennt, kommt wieder Gleichgewicht in die Geschichte.

Furthermore ist mit knapp über 400 Seiten ein langes Buch für die Altersgruppe ab ca. zehn Jahren, und ich habe über eine Woche gebraucht, es zu beenden: Es war eine nette Lektüre, doch packen oder fesseln konnte mich die Geschichte nicht, und das liegt nicht an der jungen Heldin, sondern tatsächlich in erster Linie an der Erzählstimme. Die ist sehr präsent in diesem Buch, spricht die Leser:innen direkt an, bewertet, kommentiert und entschuldigt sich dafür, in Alices Privatsphäre eingedrungen zu sein, wenn sie mir mitteilt, was sich die junge Heldin lieber nicht einmal selbst eingestehen möchte – eigentlich ein Kniff, aus dem man etwas Schönes hätte herausholen können, wäre dieser namenlose Erzähler dabei nicht so unerträglich geschwätzig.

Immer wieder wird man aus der Geschichte herazusgerissen, weil es hier noch einen Einschub gibt, da eine Erläuterung und dort ein »Habe ich euch schon erzählt, dass …?«. Das Tempo will einfach nicht stimmen. Erst kommt das Buch einfach nicht in Fahrt – kapitellang wird erzählt, wie Alice durch ihr Dorf tänzelnd nach Hause geht, ohne dass irgendwas von Belang passieren würde, und auch wenn wir unsere Hauptfigur dabei ein bisschen kennenlernen können, erfahren wir doch mehr über sie, wenn sie mit anderen Leuten interagiert, denn dabei kann das Buch seine durchaus vorhandenen Stärken zeigen, denn die Charakterisierung der Figuren ist wirklich gelungen, sie sind vielschichtig und interessant – doch das entschädigt nicht für ein völlig in den Teich gesetztes Pacing.

So aber passiert über weite Strecken einfach nichts, und ehe Alice ins Land Furthermore kommt, ist schon mehr als ein Viertel des Buches rum, und das rächt sich dann, wenn wirklich etwas passiert: Immer wieder bekomme ich das Gefühl, die Autorin hätte durchaus wichtige Szenen rausgekürzt, um eine Seitenzahlenbegrenzung einhalten zu können, die beiden Hauptfiguren durchleben ein paar ebenso gewagte wie unmotivierte Szenensprünge, und am Ende hat Mafi dann gänzlich kapituliert: Da kommt erst eine absolut unlogische Plotwendung, dann wird auf zehn Seiten im Eilverfahren zusammengefasst, was alles noch passiert ist, wir hetzen durch ein Hopplahopp-Happyend, das mich wirklich geärgert hat, weil es so klobig und ungeschickt wirkte und der Geschichte wirklich nicht gerecht werden konnt.

Dabei hätte man das Buch wirklich gut straffen können, um dann Zeit zu haben für ein richtiges Ende. Aber ausgerechnet das Buch über Furthermore, ein Land, in dem es bei Höchststrafe verboten ist, Zeit zu stehlen, fühlt sich an, als hätte es genau das mit mir getan. Da sehe ich die Schuld auch beim Lektorat, das Mafi hätte helfen müssen, mit der Seitenzahlenbegrenzung sinnvoll zu haushalten und den Rotstift da anzusetzen, wo es einen Sinn ergibt, statt ausgerechnet das Ende mit dem Hackebeil zu bearbeiten.

Auch in Sachen Wortwitz hatte ich mir mehr erwartet. Davon hat das Buch gerade genug, um unübersetzbar zu sein – und ist, anders als Mafis Young Adult Reihe Shatter Me, dementsprechend auch nie auf Deutsch erschienen – aber es bleibt alles sehr verhalten, und trotz gelegentlicher Wortspiele (so kann »a long sentence« sowohl einen langen Satz meinen als auch eine lange Haftstrafe) versucht Furthermore gar nicht erst, witzig zu sein. Das ist positiv, wo es die Sorgen und Nöte seiner Hauptfiguren absolut ernst nimmt, aber bitter, wo Witz nötig wäre, die zahlreichen Grausamkeiten des Buches abzumildern.

Alice und Oliver sind in Furthermore nämlich ständig in Gefahr, buchstäblich aufgefressen zu werden, und statt das auf lustig-makabre Weise einzuflechten, vielleicht in der Tradition eines Roald Dahl, haben wir es hier mit einem präsenten Horror zu tun und mit Szenen, die für Zehnjährige ziemlich harter Tobak sind. Auch The Girl Who Circumnavigated Fairyland in a Ship of Her Own Making war öfter traurig als lustig, aber es schaffte die Balance, dabei nie seinen Zauber zu verlieren und dabei mein Herz zu berühren. Furthermore scheitert daran, so leicht es mir fällt, mich mit dieser Alice zu identifizieren.

Auch Alice hat eine magische Gabe, aber sie lehnt sie ab und möchte lieber tanzen – und da die in der Lage ist, den Rhythmus der Welt zu spüren, kann man letztlich davon ausgehen, dass sie tatsächlich über zwei Begabungen verfügt. Aber als Alice beim großen Talentwettbewerb ihren Tanz vorführt, fällt sie damit auf ganzer Linie durch, und als sie sich irgendwann zu ihrer – vom Erzähler etwas plump vor der Leserschaft verborgenen – eigentlichen Gabe bekennt, wird das Tanzen nie wieder thematisiert, und damit vertut das Buch eine große Chance, einen Kreis zu schließen. Wie sehr hätte es mich gefreut, wenn sie am Ende den Sieg davongetragen hätte mit dem, woran ihr Herz hängt, und es nicht mit der Holzhammer-Message »Akzeptiere dich so, wie du bist« enden würde. Antiklimatisch ist es so oder so gelöst, da der eigentliche Einsatz von Alices Gabe dann nur mit einem Satz à la »Und dann setzte Alice ihre Gabe ein, und alles war wieder heile« abgefrühstückt wird. So viel verschenktes Potenzial!

Und ich denke, »verschenktes Potenzial« ist dann auch mein persönliches Fazit. So viel hätte man aus diesem Buch herazusholen können und diesem Land, in dem es so viele Anlagen zu Wortwitz gibt, die dann ungenutzt bleiben, in dem »left« als Gegenteil von »right« genauso gut »wrong« bedeuten kann und in dem man die zugeteilte Zeit mit Linealen misst. Vieles ist surrealistisch, aber dann doch nicht surrrealistisch genug, absurd, aber nicht absurd genug, und der ruinierte Schluss zieht das Buch dann nochmal weiter runter.

Da wird erst langsam das gestörte Verhältnis zwischen Alice und ihrer Mutter aufgebaut, um es dann beiläufig in drei Sätzen wieder aufzulösen, und überhaupt hat es mich sehr gestört, dass Alice und Oliver die dicksten Freunde werden müssen, nachdem er sie verletzt, angelogen und ausgenutzt hat – ja, auch Oliver ist mit sich selbst nicht im Reinen, aber das entschuldigt dann auch nur für so-und-so-viel. Warum ein Buddy Movie aus dem Buch machen, wenn man die Chance hätte nutzen können, das Verhältnis zwischen den Beiden so ambivalent zu lassen, wie auch die Figuren angelegt sind?

So hinterlässt dieses Buch, das so pickepackevoll mit Magie ist, dass sie als Zahlungmittel dient, einen mondän-faden Nachgeschmack; macht zwar Lust, wie Alice ab und zu einen Blütenkopf zu vernaschen, ist aber am Ende doch halbgar und stellenweise unlogisch. Und letzteres kann ich einem Buch, das sich anstrebt, in die Fußstapfen von Carrolls Alice zu treten, am wenigsten nachsehen. Und doch bin ich neugierig auf das zweite, unabhängig von Furthermore zu lesende Buch, das Mafi – die übrigens die Ehefrau des Mrs. Peregrine‘s-Autors Ransom Riggs ist – in dieser Welt angesiedelt hat.

Aber Whichwood, 2017 erschienen, ist inzwischen im Hardcover vergriffen und nur noch antiquarisch zu haben: Ein riesiger Erfolg, wie die anstelle eines Klappentexts auf den Buchrücken gedruckten Kritikerstimmen glauben machen wollen, sind beide Bücher nicht geworden.

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