Andrew S. Chilton: The Goblin’s Puzzle

Über manche Bücher stolpert man auf ungewöhnlichem Weg. Vor einigen Jahren landete ich über das Writer Beware-Blog auf der Webseite eines betrügerischen Literaturagenten, von da aus surfte ich weiter zu einer anderen amerikanischen Literaturagentur, und um zu schauen, wie seriös oder nicht die sein könnte, warf ich einen Blick auf ihre erfolgreich vermittelten Titel – und stieß dort auf ein Buch, das so interessant aussah, dass ich es mir postwendend kaufte. Schon der Titel klang vielversprechend. The Goblin’s Puzzle: Being the adventures of a boy with no name and two girls called Alice – das war doch schon mal sehr ansprechend, und als ich dann auch noch im Klappentext las, dass es sich um eine Verwechslungsgeschichte handelt, in welcher der Drache die falsche Maid raubt, war mir klar, dass ich es haben musste.

Und dann, wie so oft, wanderte das Buch ins Regal, und ich schaute es mehr als fünf Jahre lang nicht mehr an, bis es mich jetzt angesprungen hat. Die Lektüre von Furthermore hatte mir vor Augen gerufen, wie viele Jugendbuchheldinnen doch Alice heißen, und hier hatte ich nicht nur eine, sondern gleich zwei Namensträgerinnen – und so nahm ich mir The Goblin’s Puzzle als nächstes vor, und ich muss sagen, es war ein angenehmes, gut zu lesendes Stück Jugendliteratur. Am Anfang bin ich noch über eine in meinen Augen unnötig brutale Szene gestolpert, aber das hat sich zum Glück nicht durch das ganze Buch gezogen, und ich denke, es ist ein durchaus empfehlenswertes Buch für Kinder ab zehn bis zwölf Jahren, die Märchen und Logik mögen.

Märchen und Logik? Ist das nicht eine seltsame Kombination? Sind nicht ausgerechnet Märchen oft ziemlich unlogisch? Und doch passt es hier gut zusammen. Denn das namensgebende Rätsel des Goblins ist nicht von der Art »Was geht morgens auf vier Beinen, mittags auf zweien und abends auf dreien?«, auch wenn ich eigentlich darauf gehofft hatte – ich mag Rätsel, bei denen ich mitraten kann – sondern ein klassisches Logikproblem. Weil der namenlose Junge, ein eher unfreiwillig entlaufener Sklave, ihn gerettet hat, bietet der Goblin Mennofar ihm drei Eide an: Zwei davon nimmt der Junge, ziemlich widerstrebend, für sich selbst an, den dritten reserviert er für seinen Meister, den er immer noch für seinen rechtmäßigen Besitzer hält. Und so schwört Mennofar, dem Jungen nur die Wahrheit zu sagen – was ihn natürlich nicht verpflichtet, überhaupt eine Antwort zu geben – und ihm jeden Tag eine Ja/Nein-Frage dementsprechend wahrheitsgemäß zu beantworten.

Und schon finden wir uns im besten Binärsystem. »Bin ich wahrhaftig und rechtmäßig ein Sklave?«, fragte der Junge, und als der Goblin das verneint, beginnt für den Jungen das große Rätselraten, wer oder was er dann in Wirklichkeit ist. Da er über keinerlei Bildung verfügt, und auch wirklich keine Ahnung von Logik hat, arbeitet er nicht, wie ich es an seiner Stelle getan hätte, mit Intervallen, um die Antwort einzuengen – er fragt ganze Märchen en block an. »Bin ich ein verschollener Prinz, der von seinem heimtückischer Onkel um den Vater gebracht und in die Sklaverei verkauft worden ist?« ist noch die einfachste Frage, immer abstruser werden seine Konstrukte, und natürlich lauten die Goblinantworten darauf immer »Nein«.

Erst die Einfache Alice – um sie von ihrer Namensvetterin Prinzessin Alice zu unterscheiden – erklärt dem Jungen die Grundlagen der Logik und wie man mit maximal fünf Fragen eine Zahl zwischen eins und zwanzig erraten kann, und natürlich überfordert sie ihn damit heillos – aber bevor Alice das tun kann, muss sie erst einmal gerettet werden, denn da ist diese Kleinigkeit mit dem Drachen, den der finstere Herzog Geoffrey beschworen hat, um die Prinzessin zu entführen, und der stattdessen die falsche Alice erwischt. Diese Alice, Tochter eines verarmten Weisen, träumt davon, selbst einmal die Ausbildung zur Weisen anzutreten, und der Vater würde sie ja auch ausbilden, aber dafür muss der Rat der Weisen sie erst einmal zulassen, und die tun sich sehr schwer damit, Mädchen zu akzeptieren. Alice muss sich beweisen – und das Rätsel eines Goblins zu lösen, käme ihr da gerade recht.

Was für ein Glück, dass der schicksalsgläubige Junge inzwischen überzeugt ist, zu großen Heldentaten bestimmt zu sein, und bei seiner Ehre schwört, das Mädchen Alice vom Drachen zu befreien! Zwar ist die Einfache Alice da längst nicht mehr dem nicht unfreundlichen Drachen, der selbst keine Wahl hat, als dem Finsterling Geoffrey zu gehorchen, denn als dieser, sein Name ist Ludwig, seinen Irrtum versteht, liefert er die falsche Alice bei einem Oger ab und entführt die richtige – aber das stört den Jungen nicht groß, dann besiegt er eben einen Oger … Und dann versteht der Junge, dass ihn sein hoch und heiliger Schwur immer noch bindet und er auch Prinzessin Alice vom Drachen befreien muss. Gesagt, getan – nur, dass sie dann auf dem Rückweg ausgerechnet in der Burg von Herzog Geoffrey Station machen, stellt sich als keine gute Entscheidung heraus …

Vieles an diesem Buch hat mir wirklich gut gefallen. Die Idee, dass Drachen eine ganz eigene Wahrnehmung haben, mit der sie nicht Form und Beschaffenheit der Dinge sehen, sondern ihre Namen, war ein wirklich netter Kniff, auch wenn ich dann schnell verstanden habe, was das für den Jungen, der eben keinen Namen hat, bedeutet, und wie er dann den Drachen mit einer List dazu bringt, die Prinzessin freizugeben, war eine wirklich schöne Szene, auch wenn Odysseus bei Polyphem schon einen ähnlichen Trick angewandt hat und die Idee damit wirklich nicht mehr neu war.

Auch die Art, wie das Buch erzählt ist, war schön – das Tempo stimmt von vorn bis hinten, und der Stil erinnert mich an das von mir sehr geschätzte Buch Der kleine dicke Ritter von Robert Bolt, das ich wirklich mal wieder lesen könnte. Weniger gefallen hat mir die Rolle der beiden Alices. Hatte ich nach dem langen Titel angenommen, dass alle drei gleichberechtigte Hauptfiguren wären, ist der Fokus doch ganz klar auf dem Jungen und seinem Goblinbegleiter, während Alice und Alice Nebenfiguren bleiben, Stichworte geben und sich befreien lassen dürfen. Zwar schafft es die Einfache Alice, dem Drachen zu entfliehen, nur um gleich wieder eingefangen zu werden, und bei dem Oger, bei dem sie als nächstes landet, ist sie dann auch nur noch eine hilflose Damsel in Distress, die es zu retten gilt.

Dazu wird ihre Gelehrsamkeit als etwas, das sie für alle anderen unsympathisch macht, dargestellt, und ihr selbstbestimmtes Verhalten als »bossy« bezeichnet, ein Begriff, der nahezu ausnahmslos als benutzt wird, um durchsetzungsfähige Frauen zu diskreditieren, und auch wenn dieser Hauch von Sexismus nicht mit dem mithalten kann, was ich in Hollow Earth habe lesen müssen, hat es mich doch gestört. Dabei ist der Junge auch kein strahlender, starker Held – er tut sich schwer damit, Alices und Mennofars komplexe Logik zu durchschauen, bringt mit einem offensichtlich vergeigten Intelligenzwurf sie alle in größte Gefahr, als mit ihm angesichts Geoffreys vermuteten Schandtaten die Rechtschaffenheit durchgeht, und ist im Kampf nicht zu viel zu gebrauchen, seit ihn eine Heugabel übel am Arm verletzt hat. Aber er lernt, über sich hinauszuwachsen und listig zu sein, wenn es drauf ankommt, und löst dann, mit Alices Hilfe, das Rätsel seiner Herkunft –

– welches dann von Mennofar ziemlich antiklimaktisch enthüllt wird. Da hätte ich gerne mehr, diesmal geschickter gestellte Fragen gesehen, aber plötzlich wirft der Goblin seinen Ehrenkodex, der ihn davon abhält, jemals die ganze Wahrheit zu erzählen, über Bord und erzählt die ganze Wahrheit, nachdem der Junge sich schon für Schrödingers Sklaven hält, da er nach Mennofars Antworten gleichzeitig ein Sklave und kein Sklave ist. Aber auch da muss man, auch das hatte ich lange vorhergesehen, jedes Wort auf die Goldwaage legen, und so war die eigentliche Auflösung für mich dann keine Überraschung mehr.

So ist es dann ein Buch, das mir zwar gut gefallen hat, aber wenn man die Logik- und Semantikprobleme rausnimmt, doch nur eine ziemlich triviale und etwas abgedroschene Geschichte erzählt. Vielleicht tue ich ihm da gerade ein bisschen unrecht, denn es geht auch um durchaus relevante philosophische Fragen, wie die nach der persönlichen Freiheit und dem Schicksal, aber die Figuren sind alle ein bisschen eindimensional, der Schurke ein bisschen zu plakativ schurkisch, und die überraschenden Wendungen ein bisschen zu leicht vorhersehbar, wenn man sich schon mal ein bisschen mit Logik befasst hat.  Aber das ist Kritik auf hohem Niveau. Mir ist es lieber, die Wendungen in einem Kinderbuch ergeben sich logisch aus der vorangegangenen Handlung, als wenn, wie neulich bei Hollow Earth, alle Logik aus dem Fenster geworfen wird.

Apropos Logik: Wenn man denkt, das Buch wäre vorbei, kommt ein Nachwort, das sich gewaschen hat: Da führt dann Autor Chilton, zu dessen Vorbildern für The Goblin’s Puzzle laut Klappentext neben dem Hobbit auch Aristoteles Nikomachische Ethik zählt, seine jungen Leser:innen in die Logik ein, bringt Beispiele für richtige und falsche Schlussfolgerungen und wirft dabei mit Fachbegriffen um sich, dass wahrscheinlich kaum ein Kind den Exkurs bis zum Ende lesen wird. Damit erinnert mich The Goblin Puzzle an ein ziemlich vergessenes Buch von Lewis Carroll, Sylvie and Bruno, mit dem der leidenschaftliche Mathematiker Carroll bereits 1889 versucht hat, Kindern Logik, in einen Nonsens- und Märchenmantel gekleidet, nahezubringen und auf ganzer Linie gescheitert war.

Sylvie and Bruno konnte an den Erfolg von Carrolls Alice in nichts anknüpfen. Und auch Chiltons Debüt scheint 2016 ziemlich untergegangen zu sein, der Autor hat seitdem nichts mehr veröffentlicht, was schade ist. Ich kann mir durchaus vorstellen, mehr von ihm zu lesen. Bis irgendwann vielleicht doch noch mehr von ihm kommt, blicke ich ganz zufrieden auf The Goblin’s Puzzle zurück, das ich innerhalb von drei Tagen runtergelesen habe und mir trotz kleiner Einschränkungen doch ganz gut gefallen hat.

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