Lynette Noni: The Prison Healer

Bei den meisten Büchern kann ich relativ schnell abschätzen, ob sie mir gefallen oder nicht. Ich sehe, ob ich den Stil mag, in dem ein Buch geschrieben wurde, ob ich die Figuren mag oder, wenn sie überhaupt nicht als Sympathen angelegt sind, ob ich sie glaubwürdig und plausibel finde, ich fühle den Weltenbau oder dessen Abwesenheit, und ich sehe, wie der Plot konstruiert ist – meistens kann ich auf fünfundzwanzig Seiten doch schon einen guten Eindruck von einem Buch bekommen, und auch wenn sich an meinem endgültigen Urteil immer noch etwas ändern kann, wenn ich am Ende angekommen bin, ist die Tendenz doch üblicherweise klar. Ich liebe ein Buch, dann verzeihe ich ihm im schlimmsten Fall sogar einen vergeigten Schluss, oder ich liebe es nicht. Und dann gibt es Bücher, die gehen buchstäblich auf den letzten drei Metern über den Hai, und was ein Buch war, das ich eigentlich durchaus mochte, wird zu einem Ärgernis, dessen Fortsetzungen, die ich schon im Einkaufswagen liegen hatte, glatt wieder von der Liste gestrichen werden. So ein Buch war, leider, Lynette Nonis The Prison Healer.

Bis kurz vor dem Schluss mochte ich dieses Buch noch. Ich hatte Kritikpunkte, die ich mir für meine Rezension zurechtgelegt hatte, es gab ein paar wirklich merkwürdige Elemente im Buch, die mich immer wieder aus der Immersion rausrissen – aber ich hatte im Großen und Ganzen nichts an der Geschichte auszusetzen, und weil das Buch der Auftakt einer Trilogie ist, war ich darauf eingestellt, auch die bereits erschienene Bände zwei und drei zu lesen – und dann kam das Ende und verwandelte das Buch in ein Ärgernis und ließ mich vor der Frage stehen, wie ich damit umgehen soll. Üblicherweise vermeide ich Spoiler in meinen Rezensionen; selbst bei Büchern, von denen ich unterm Strich abrate, möchte ich niemandem die Spannung ruinieren, um sich ein eigenes Bild zu machen. Eine Ausnahme habe ich für das maximal ärgerliche ableistische Machwerk Unlocked gemacht, aber das war wirklich ein eigens Kaliber von Ärgernis – bei The Prison Healer war es eine erzählerische Entscheidung, die mir das Gefühl gegeben hat, verarscht worden zu sein, aber immerhin verbreitet das Buch keine fragwürdigen Stigmata, und so will ich jetzt versuche, meine Kritik zu äußern, ohne das Ende zu spoilern – selbst wenn es genau dieses Ende war, über das ich mich so geärgert habe.

Aber der Reihe nach. Das Buch fängt natürlich nicht mit seinem Ende an. Es beginnt mit etwas, über das ich mich tatsächlich sehr gefreut habe: Zwei Karten, nämlich, eine der Welt Wenderall mit ihren verschiedenen Königreichen und eine Detailkarte des Zalindov-Gefängnisses, in dem The Prison Healer, vom Prolog abgesehen, in Gänze spielt. Und ich mag Gefängnisse als Setting. Das hatte ich zuletzt bei Incarceron, und auch wenn ich noch lebhafte Erinnerungen an diese Lektüre habe, ist es dreizehn Jahre her, dass ich das Buch gelesen habe, und Zeit für ein neues Gefängnisbuch. Auch wenn das denkende, fühlende Clockworkpunk-Gefängnis in Incarceron einfach ein unerreicht cooles Setting ist, neben dem sich Zalindov gewöhnlich und nicht so originell anfühlt, hat mich das beim Lesen kaum gestört, und durch den begrenzten Schauplatz werden die einzelnen Handlungsorte intensiver fühlbar. Und ich kann einem Buch, das nie behauptet hat, ein Clockworkpunk-Roman zu sein, nicht vorwerfen, wenn es keiner ist.

Es handelt sich letztlich um High Fantasy, wobei, dazu komme ich nachher, die historische Einordnung der Welt schwerfällt. Natürlich verläuft Geschichte zwischen einer Fantasywelt und unserer nicht linear, aber man möchte schon ungefähr sagen können, ob man sich im tiefsten Mittelalter befindet oder im Äquivalent des Einundzwanzigsten Jahrhunderts, und hier fühlt sich das Setting durchaus vorindustriell an, nur damit die Autorin dann Modernismen verwendet, die einen komplett rausreißen. So ist die Hauptfigur, Kiva Meridan, wie der Titel erahnen lässt, Heilerin im Gefängnis. Sie mörsert Heilkräuter und rührt Tränke, Tinkturen und Salben an – nur, um mir dann etwas von Schmerzrezeptoren, Adrenalin oder Endorphinen zu erzählen, die in dieser Welt noch lange nicht bekannt sein dürften. Da hat man einfach das Gefühl, die Autorin scheitert daran, sich in den Kopf ihrer Hauptfigur zu versetzen, durch ihre Augen zu blicken und auch die Grenzen ihres Wissens abschätzen zu können.

Denn Kivas Wissen ist begrenzt. Sie ist siebzehn Jahre alt und befindet sich im Zalindov-Gefängnis, seit sie sieben Jahre alt ist und zusammen mit ihrem Vater, der immerhin ausgebildeter Heiler, dort hineingeworfen worden ist. Natürlich hat sie sich von ihren Vater ein bisschen was abgucken können – aber der ist gestorben, bevor Kiva auch nur zehn Jahre alt war, und Wunderkind hin, Heiltalent her, es gibt einfach nur so-und-so-viel, das sie wissen kann, und über akademische Bildung verfügt sie nicht. Sie ist selbst nur eine Gefangene, eine, die zufällig ein bisschen vom Heilen versteht und sich den Heilerjob mit zwei minderbegabten und -motivierten Kolleg:innen teilt. Und auch wenn das ein interessantes Charakterkonzept ergibt, muss ich hier die Plausibilität hinterfragen: Warum hat das größte Gefängnis der Welt keinen festangestellten, hauptberuflichen Heiler? Es gibt schließlich auch Wärter, es gibt den Gefängnisvorsteher, es gibt eine Krankenstation, und offenbar ist nicht per se vorgesehen, dass die Gefangenen wegsterben wie die Fliegen: Warum es dann dem Zufall überlassen, ob zufällig eine:r der Gefangenen etwas von Heilkunst versteht, wenn es ausgebildete Heiler gibt?

So wirkt vieles an diesem Setting, so interessant ich das Gefängnis auch finde, schlecht durchdacht oder einfach unlogisch, aber ich war bereit, großzügig darüber hinwegzusehen, solange die so konstruierte Handlung immerhin in sich funktioniert. Und Kiva ist eine interessante Figur, das muss man ihr lassen. Sie ist auf der einen Seite eine Heilerin, die sich für ihre Patient:innen aufreibt, ohne zu fragen, welche Verbrechen die vielleicht begangen haben, um in Zalindov zu landen; auf der anderen Seite ist sie abgestumpft von den erlittenen Misshandlungen, mag keine Beziehungen oder auch nur Freundschaften eingehen, weil die Leute es unter den Strapazen der Zwangsarbeit ohnehin nicht lange machen, und sichert sich ihr eigenes Überleben, indem sie opportunistisch im Auftrag des Vorstehers ihre Mitgefangenen denunziert. So ist sie, trotz ihrer Lebensretterqualitäten, alles andere als wohlgelitten, muss sich beschimpfen und beleidigen lassen und ist doch schutzlos, wo es um Missbrauch durch die grausamen Wachen geht.

Als Mithäftling Jaren nach Zalindov kommt, hat Kiva natürlich nicht vor, sich zu verlieben, aber natürlich sieht er umwerfend aus, hat trotz aller Strapazen seinen Humor nicht verloren und sucht immer wieder ihre Nähe, und da dieses Buch doch trotz seines Settings ins romantische Untergenre innerhalb der Fantasy fällt, ist schnell klar, dass sich da was anbahnt, auch wenn die Liebesgeschichte angenehm zurückhaltend und nicht zu verkitscht daherkommt. Relevanter für Kiva ist erst einmal die Ankunft einer anderen Gefangenen, der Rebellenkönigin Tilda, der in Zalindov für ihre aufrührerischen Umtriebe der Prozess gemacht werden soll – mit einem vierteiligen Gottesurteil im Zeichen von Feuer, Wasser, Luft und Erde, drunter tun wir es nicht. Und weil Tilda schwerst krank ist und nicht imstande, sich den Prüfungen zu stellen, geschweige denn diese zu überleben, ist Kiva in der Bredouille: Von ihrer Familie, mit der sie sporadisch per chiffrierter Botschaften in Kontakt steht, kommt die Ansage »Lass sie nicht sterben, wir kommen!«, und die Gefängniseigenen Rebellen bedrohen das Leben von Kivas Gehilfen Tipp, wenn sie Tilda nicht rettet – was für Kiva Motivation genug ist, sich als Champion zur Verfügung zu stellen und die Prüfungen an Tildas Stelle zu absolvieren; Prüfungen, die ohne eigene Magie praktisch nicht zu überleben sind …

An der Stelle fand ich das Buch noch sehr vorhersehbar. Einige zu beiläufige Hinweise hier, zu willkürlich vermummt auftretende Königssprösslinge da, und es war leicht, sich zusammenzureimen, was wirklich Sache ist mit Kiva und Jaren, und bis kurz vorm Ende des Buches sind die Sachen dann auch allesamt so eingetreten, wie ich sie vorhergesehen habe. Das kam zum Teil mit so klarer Ansage, dass ich nur die Augen rollen konnte – als eine unerklärliche Seuche unter den Gefangenen umgeht – um die sich natürlich auch Kiva kümmern muss, neben ihren todbringenden Prüfungen – wusste ich praktisch sofort, was los ist, und hatte natürlich auch recht mit meiner Annahme, dass jemand aus Kivas eigenem Dunstkreis ebenfalls erkranken muss, um noch mehr Druck in die Sache reinzubringen, und meine Ansagen kamen so präzise, wie ich im Historienschinken vorhersagen kann »Gleich fällt das Kohlebecken um!« – was der Spannung leider doch etwas abträglich war.

Überhaupt ist das mit der Spannung so eine Sache, wenn man nur eine einzige Hauptfigur und Perspektivträgerin hat und die vier Proben auf Leben und Tod zu überstehen hat: da bangt man als Leser nicht um ihr Leben, das gilt mangels alternativer Hauptfigur als gesetzt, und die Frage ist nur, wie sie überlebt, nicht ob. Nur wie sie das dann getan hat, alle vier Teile, hat mich nicht überzeugen können. Ich erwarte keine übermächtige Superheldin, das ist es nicht, was ich lesen mag, aber Kiva wird zu oft durch Dritte gerettet, schafft zu wenig von selbst, und dann kann man mir noch so oft erklären, dass sie eine Einzelgängerin ist, die sich nicht auf andere verlassen mag, es läuft doch nur darauf hinaus, dass sie eine Jungfer in Nöten ist, die es zu retten gilt.

Und doch hat mir das Buch so weit gefallen. Die chiffrierten Nachrichten, die sie bekommt, habe ich mit mehr Spaß selbst entziffert, als das in Mr. Griswolds Bücherjagd der Fall war – muss allerdings dazu sagen, dass das ein so einfacher Chiffre war, dass die Nachrichten ebenso gut im Klartext hätten verschickt sein können, ich konnte die Geheimschrift auf Anhieb lesen, aber es hat mir eben Spaß gemacht. Ich habe verziehen, dass Kiva mehr weiß, als sie wissen dürfte, komplexe juristische Konstrukte wie die Möglichkeit, für den Todeskandidaten als Champion anzutreten, eingeschlossen – ich habe den inkonsistenten Weltenbau mit den medizinischen Modernismen hingenommen und die zu offensichtliche Liebesgeschichte, und sogar die wirklich an den Haaren herbeigezogene Aufklärung der mysteriösen Seuche, die wirklich ein unlogischer Tiefpunkt des Buches war – weil ich Kiva mochte, weil mir ihre Perspektive gefiel und ich ihre Sicht auf die Welt interessant fand.

Und es ist eine wirklich enge Perspektive, in der das Buch geschrieben ist. Die Kamera schaut Kiva nicht über die Schulter, sondern blickt durch ihre Augen, sie hat viel Zeit dafür, Monologe zu halten und tut das auch ausführlich, und ich bin davon ausgegangen, dass ich sie kenne – nur, um dann buchstäblich auf den letzten drei Seiten zu erfahren, dass alles ganz anders war, dass Kiva aus ganz anderen Beweggründen handelt, als es – in ihrer eigenen Perspektive – den Anschein hat, und dass sie Figuren, denen sie – ebenfalls in ihrer eigenen Perspektive! – als Fremde begegnet, in Wirklichkeit ihr Leben lang kennt. Und an der Stelle habe ich mich schlichtweg verarscht gefühlt.

Man kann und darf als Autor:in seine Leserschaft hinters Licht führen. Agatha Christie hat es geschafft, einen Krimi zu schreiben, in dem sich der Icherzähler am Ende als Mörder herausstellt, durch geschicktes Auslassen relevanter Szenen. Aber das hier hat mit erzählerischem Geschick nichts mehr zu tun, sondern nur mit unmotiviertem Anlügen der Lesenden, nur für einen Knalleffekt am Ende, der so billig daherkommt, dass ich den Rest der Reihe wirklich nicht mehr lesen mag. Und ich bin, in meiner Funktion als Autor, ein gebranntes Kind, was das angeht, ich habe im ersten Band meiner Neraval-Sage auch alles auf einen Knalleffekt gesetzt und damit mehr Leser:innen verloren als gewonnen – aber ich habe der betreffenden Figur konsequent nicht die Perspektive gegeben, um die Lesenden über die wahren Zusammenhänge im Dunkel zu lassen. Hier, bei The Prison Healer, bin ich angelogen worden, und das nehme ich dem Buch übel. Ich werde gerne überrascht, aber ich mag nicht verarscht werden.

Und so werde ich jetzt um die beiden Fortsetzungen des Buches, das auf Deutsch unter dem Titel Prison Healer – Die Schattenheilerin erschienen ist, bis auf weiteres einen Bogen machen. Ich mag die Art nicht, wie ich hier als Leser behandelt werde, und ich traue Lynette Noni nicht mehr, mich in den späteren Büchern besser zu behandeln. So endet meine Reise nach Wenderall hier vorzeitig. Und das ist schade, denn von der Weltkarte habe ich, bis auf das Zalindov-Gefängnis, jetzt nichts kennenlernen können. Aber mir ist die Lust auf diese Geschichte erstmal vergangen.

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