Paulo Coelho: Veronika beschließt zu sterben

Es gibt viele Bücher, die mir das Leben versüßt oder erleichert haben, aber nur von einem kann ich sagen, das es mir das Leben gerettet hat: Veronika beschließt zu sterben ist dieses Buch. Es war im Dezember 2000, als mein Leben in Trümmer ging. Dass ich wenige Tage später meine Arbeit verlieren sollte, wusste ich noch nicht, und als es dann geschah, war es bedeutungslos. Ich hatte meine Liebe verloren. Mein Freund verließ mich, einfach so, und ich brach zusammen. Ich konnte nicht mehr arbeiten. Am Nachmittag dieses Tages meldete ich mich krank und fuhr in die Stadt, um einen Psychiater aufzusuchen, der mein Leben retten sollte. Einen Termin hatte ich nicht. Die freundliche Sprechstundenhilfe: Im Moment ist hier alles voll, kommen Sie in zwei Stunden nochmal … Ich nickte dumpf. Zwei Stunden. Ich hatte keine Ahnung, wie ich die durchstehen sollte. Aber dann fuhr ich mit der U-Bahn weiter, zum Laden der Büchergilde Gutenberg. Was sollte mich besser aufmuntern als ein schönes Buch?

So kaufte ich Veronika. Der knatschgrüngelbe Umschlag gefiel mir nicht so gut, aber das Buch hatte man mir empfohlen, es war auch schon gerade von den Bestsellerlisten wieder runtergerutscht, und unter dem schützenden Papier fand sich ein wunderschöner verzierter Einband aus grüner Seide. Ich nahm das Buch und fuhr in die Innenstadt zurück Dann suchte ich eine Bank. Abgeschieden sollte sie sein. Ich wollte nicht in der Fußgängerzone sitzen und weinen. Hinter einer Seitenstraße fand ich das Kölner Opernhaus, der Platz davor verlassen bis auf ein paar Tauben und Bänke. Von meinen zwei Stunden waren noch anderthalb übrig. Ich setze mich, nahm das Buch aus der Tasche, und fing an zu lesen, um mich auf andere Gedanken zu bringen. Immerhin, es war nicht so dick. Und ich las es, bis zur letzten Seite. Knappe zwei Stunden später saß ich dann im Wartezimmer meines Arztes. Es ging mir nicht gut. Aber ich lächelte fast. Ich liebte meinen Freund, aber in diesem Moment liebte ich auch das Buch. Ich ahnte, dass es mir gerade das Leben gerettet hatte.

Nicht, dass ich in diesem Moment vom Tode bedroht gewesen wäre. Ich war nicht selbstmordgefährdet, noch nicht einmal mit einem gebrochenen Herzen. Aber ich war bereit, mich und alles andere aufzugeben, mich hängenzulassen, und hätte mein Nervenarzt mir vor der Lektüre dieses Buches gesagt, dass er mich gerne zumindest übers Wochenende in die Psychiatrie einzuweisen, ich hätte höchstens noch mein Handy gezückt und meine Mitbewohnerinnen gebeten, mir einen gepackten Koffer hinterherzuliefern, und aus dem Wochenende wären Wochen geworden und am Ende vielleicht Monate. Aber als ich dann Dr. B. gegenüber saß und er mir das mit der Psychiatrie sagte, konnte ich ihn ansehen und den Kopf schütteln und sagen »Nein, das muss ich so schaffen, im Alltag«. Denn das Buch, das ich von allen Büchern der Welt an diesem Tag erwischt hatte, handelt genau davon: Dass man sich nicht in der trügerischen Sicherheit einer geschlossenen Anstalt vergraben soll, sondern die Welt anpacken, so wie sie ist. Hat Coelho das in dieses Buch gelegt oder ich selbst? Das ist mir egal. Wichtig ist, was ich für mich mitnehmen konnte.

Anders als ich versucht Veronika wirklich, sich das Leben zu nehmen, mit einer Überdosis Tabletten. Sie hat keinen bestimmten Grund dafür, außer, dass sie des Lebens an sich überdrüssig ist, und dieser Lebensunwille ist wohl von allen Gründen der, der sich am schwersten bekämpfen lässt, so tief verwurzelt und grundsätzlich ist er. Dass sie in ihrem Abschiedsbrief darauf verweist, dass auch Jahre nach der Unabhängigkeit Sloweniens niemand Ljubljana kennt (und das gilt heute immer noch, meine Rechtschreibkorrektur hat noch nie davon gesorgt) sorgt dafür, dass ihr Fall in der Zeitung landet und sich der Direktor der Nervenheilanstalt für sie zu interessieren beginnt. Ihr Leben wird natürlich gerettet, sonst wäre das ein sehr kurzes Buch, aber Eitel Sonnenschein herrscht trotzdem nicht: Durch den Selbsttötungsversuch ist Veronikas Herz so schwer geschädigt, dass sie nicht mehr lange zu leben hat. Und genau diese kurze Zeit, die ihr noch bleibt, muss Veronika nutzen, um das Leben wieder lieben zu lernen.

So ist es dann ausgerechnet Veronikas aufkommende Lebensfreude und ihre unbändige Liebe zur Musik, die nicht nur sie selbst aufrüttelt, sondern auch die anderen Insassen der Psychiatrie, die sich auch ohne akuten Befund und technisch genesen nicht aus den Mauern der Anstalt hinauswagen, weil ihnen der Mut fehlt, das Leben in Freiheit in Angriff zu nehmen – auch wenn sie für diese Sicherheit ihre Freiheit aufgegeben haben. Natürlich kommt das Buch nicht ohne Liebe aus, und natürlich gibt es am Ende auch noch ein Happyend, das aber so zart und zerbrechlich und schön ist, dass man ihm und dem Autor alles verzeihen möchte. Nicht angetan habe ich mir die Verfilmung, die uns vor ein oder zwei Jahren heimgesucht hat, in dem das Buch unnötigerweise nach Amerika verlegt wurde – natürlich, niemand hätte Ljubljana gekannt! – und so viele Sachen geändert wurden, dass ich mein geliebtes Buch schon im Trailer nicht mehr wiedergefunden habe. Da lese ich lieber noch einmal das Buch, auch wenn ich diese besondere Atmosphäre auf dem Kölner Opernplatz nicht mehr wiederherstellen kann und will.

Alles an dieser Geschichte stimmt. Die Figuren überzeugen, ohne zu verkitschen, und auch die Darstellung der Irren und der Anstalt ist so viel überzeugender als zum Beispiel in der Steinmenagerie, dass man dem Autor seine eigenen Erfahrungen mit diesem Thema anmerkt. Da ist kein überflüssiges Mitleid, da wird nicht auf die Tränendrüsen gedrückt, da sind auch die Schizophrenen und Depressiven Menschen, richtige lebendige Menschen. Die Übersetzung – da ich kein Portugiesisch kann, habe ich leider keine Möglichkeit, sie mit der Sprache des Originals zu vergleichen – ist lyrisch und geschmeidig und gibt mir nicht das Gefühl, doch besser einen Volkshochschulkurs belegt zu haben, um nicht um achtzig Prozent Lesefreude betrogen zu werden, und auch nach hartnäckiger Suche finde ich nichts, was ich an diesem Buch auszusetzen hätte; von seinem anheimelnd-sperrigen Titel über den handlich-knappen Umfang bis zum romantischen Ende liebe ich alles an ihm.

Es ist nicht so, dass mich Veronika beschließt zu sterben grundsätzlich zu einem Gegner von psychiatrischen Anstalten gemacht hat, bloß das nicht! Ich bin an jenem Tag nach Hause gefahren, und am anderen Tag habe ich begonnen, um meine Liebe zu kämpfen, auf eine Weise, die sicher nicht klug war, aber am Ende erfolgreich, und so bereue ich nicht, diesen Schritt gegangen zu sein. Aber mehr als einmal habe ich mir doch gewünscht, professionelle Hilfe an meiner Seite zu haben und die Möglichkeit, mich mit Babyschritten an das neue Leben anzunähern, statt mich einfach so ins kalte Wasser zu schmeißen. Und auch heute, in einer glücklichen Partnerschaft mit genau dem Mann, um den ich damals gekämpft habe, bin ich doch kein gesunder Mensch und werde es auch in Zukunft nie sein, trotz Medikamenten und ärztlicher Betreuung. Vor knapp drei Jahren habe ich mit gepackten Koffern in der Notaufnahme der Psychiatrie gesessen, und dass ich auch an jenem Tag stattdessen nach Hause gefahren bin, ist diesmal nicht Veronikas Verdienst. Ich kenne genug Leute, denen ein Klinikaufenthalt das Leben gerettet hat, und auch Veronika wäre ohne diese Erlebnisse sicher zu keinem glücklichen und lebensfrohen Menschen geworden.

Aber darum geht es ja gar nicht. Es geht nicht darum, dass man eine akute Psychose nicht stationär behandeln sollte. Es geht darum, dass es so etwas wie ein Leben gibt, das außerhalb der schützenden Mauern stattfindet, in die wir uns einhüllen – ob das im krassesten Fall eine Nervenheilanstalt ist oder auch nur ein allzu sicherer Job, eine Wohnung, die man nur im Notfall verlässt, eine Welt, in der man nicht einfach so verrückt sein kann, darf, will. Dass man den Mut haben muss, all diese Grenzen zu durchbrechen und die eigenen Mauern zu sprengen, auch wenn es weh tut und man Angst bekommt und die halbe Welt gegen einen zu sein scheint, einfach weil das Leben selbst es wert ist. Ich brauche keinen Dale Carnegie, der mir einflüstert, ich solle mich nicht sorgen – ich sorge mich weiter, und werde das immer tun. Aber ich renne nicht mehr davon, wenn ich ein Hindernis sehe, jedenfalls nicht mehr immer, nicht mehr weit, und nicht mehr für lange. Es gibt da draußen immer etwas, für das es sich zu leben lohnt, ob das die Heimat ist, die Musik, oder am Ende doch nur die Liebe selbst.

Dass meine Geschichte am Ende glücklich ausging, ist mein eigener Verdienst, nicht nur Veronikas. Aber kein Buch habe ich danach vehementer empfohlen als dieses. Es ist für mich das beste Buch, das in den letzten fünfzehn Jahren geschrieben wurde – und so alt ist es schon fast. Ich habe ihm viele zufriedene Leser beschert. Trotzdem, bis ich es selbst nochmal zu lesen gewagt habe, vergangen viele Jahre, bis heute. Ich hatte Angst, den Zauber von damals zu zerstören, wenn ich es wie eine gewöhnliche Lektüre behandle. Aber ich wollte diese Geschichte aufschreiben können. Und so habe ich es dann noch einmal gelesen, jetzt. Auch wenn es mir nicht mehr das Leben retten muss: Ich bin mir sicher, dass es das immer noch könnte.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert