Kiersten White: Wretched Waterpark

Nachdem mir Hide von Kiersten White vor ein paar Wochen so gut gefallen hatte, habe ich mir angeschaut, was die Autorin noch so geschrieben hat, und stieß auf die Sinister Summer-Serie, eine fünfbändige Reihe von Kinderbüchern ab zirka zehn Jahren, also auf den ersten Blick nicht mit dem brutalen Mystery-Thriller für Erwachsene zu vergleichen – aber wie Hide mit seinem verlassenen Freizeitpark spielen auch die einzelnen Bände dieser Serie in gruseligen Touristenattraktionen, und wie ich nicht müde werde zu betonen, finde ich diese Thematik toll. So war der erste Band der Abenteuer der Sinister-Winterbotto-Geschwister, Wretched Waterpark, schnell bestellt – und langsam geliefert.

In Internet-Zeiten ist man ja dran gewöhnt, ein Buch, auch eines aus Amerika, innerhalb weniger Tage im Haus zu haben, aber hier musste ich mich schon freuen, eine Lieferzeit von nur zwei bis vier Wochen in Kauf zu nehmen – bei einem anderen großen Onlinehändler hätte ich sogar sechs Monate Lieferzeit gehabt. Am Ende waren es dann nur knapp mehr als zwei Wochen. Heute ist das Buch also angekommen, und ich kann stolz verkünden, die nächste Errungenschaft freigeschaltet zu haben, als ich die 235 Seiten in einem Tag fertiggelesen zu haben. So etwas war früher eine Selbstverständlichkeit für mich, aber nach der langen Lesepause finde ich nur langsam zu alter Form zurück. Aber Kiersten White schreibt so fesselnd, dass es mir leichtgefallen ist, mich ein paar Stunden am Stück hinzusetzen und das Buch in einem Rutsch zu verschlingen.

Tatsächlich gibt es viele Parallelen zwischen Hide und dem im gleichen Jahr erschienenen Wretched Waterpark. Beide spielen in Freizeitparks, und in beiden verschwinden Menschen, dass ich mich fragen muss, ob das eine Buch vielleicht eine Fingerübung war für das andere. Überhaupt ist Kiersten White eine sehr fleißige und schnelle Autorin. Im Juni 2022 ist der erste Band von Sinister Summer erschienen, der fünfte – und wahrscheinlich letzte – Teil diesen Januar, also nur anderthalb Jahre später, und in der Zeit hat sie außerdem noch zwei Bücher für Erwachsene veröffentlicht. Hut ab vor so viel Fleiß – und noch mehr davor, dass die Bücher dann auch noch gut sind!

Im Mittelpunkt der Reihe stehen die zwölfjährigen Zwillinge Theo(dora) und Alexander. Zwölfjährige Zwillinge? Hatte ich das nicht gerade erst in Hollow Earth? Ja, schon, aber zwischen diesen beiden Geschwisterpaaren liegen Welten. Theo und Alexander haben keine ständige telepathische Verbindung, keine Superkräfte, und dass sie ebenfalls ganz zu Beginn des Buches von ihren Eltern getrennt und zu bis dato unbekannten Verwandten verfrachtet werden, ist wirklich die letzte Parallele zu Matt und Em. Kiersten Whites Stärke liegt in der Ausarbeitung der Figuren, und so sind die Sinister-Winterbottom-Zwillinge sehr differenzierte Figuren. Sie haben mich mehr an die Protagonisten von Laura Rubys York-Reihe erinnert, deren ersten Band ich vor ein paar Jahren erinnert habe und die ebenfalls ein paar psychisch angeknackster Zwillinge sind, sowie ein bisschen an Oliver und Celia aus Wir werden nicht von Yaks gefressen*, womit der Zwillingsreigen dann komplett wäre.

Bei den Sinister-Winterbottoms ist Theo die Tatkräftige, die Probleme damit hat stillzustehen und mit der Verarbeitung ihrer Gefühle überfordert ist, Alexander ist vorsichtiger, ein bisschen pedantisch, wo es um die Befolgung von Regeln geht, und neigt dazu, immer das Schlimmste zu erwarten, aber die beiden haben so viel mehr zu bieten als diese knappen Charaktisierungen, und die Perspektive, die sie sich zu zweit teilen, vollbringt das Erstaunliche, die Welt gleichzeitig durch zwei sehr unterschiedliche Augenpaare zu erleben, obwohl ich eigentlich wirklich kein Freund springender Perspektiven bin.

Dazu gibt es noch Will(helmina), die vier Jahre ältere Schwester der Zwillinge, die ständig auf ihr Smartphone schaut und kein anderes Interesse zu haben scheint als die Frage nach dem WLAN-Schlüssel – die fand ich die erste Hälfte des Buches über doch arg klischeehaft und statisch, in der zweiten Hälfte wird sie von ihrem Smartphone getrennt und ein bisschen interessanter, kann aber mit ihren jüngeren Geschwistern nicht mithalten, was den ausgefeilten Charakter angeht. Ich hoffe, sie wird in den späteren Teilen der Reihe interessanter, denn so bleibt sie doch ein wenig blass.

Die anderen Figuren, die auftreten, sind so skurril wie das Erlebnisbad in Gothic-Optic, in dem die Kinder von ihrer seltsamen Tante Saffronia abgeliefert werden, um dort eine Woche zu verbringen. Die Belegschaft läuft dort nicht in Badekleidung, sondern Frack und Rüschenhemd herum, die Wasserrutschen krönen Gargoyle-Häupter, und die Umkleidehäuschen sehen aus wie Mausoleen, und es ist gut möglich, dass ein Gutteil der Rettungsschwimmer in Wirklichkeit Geister sind, aber so genau wird das bis zum Ende nicht gesagt. Mit Ausnahme des schmucken Edgar, für den dann sogar Will von ihrem Smartphone aufblickt, und der abweisenden Inahberin Mrs. Widow sind die anderen Figuren nur kleine Rollen, die über kurze Auftritte nicht hinauskommen, und wirken mehr wie ein teil der – wirklich coolen – Kulisse: Der Schwerpunkt liegt ganz klar bei den Zwillingen und wie sie die Welt sehen.

Auch wenn das kein Fantasybuch ist, muss man keinen unnötigen Realismus von Wretched Waterpark erwarten. Das geht mit dem trübsinnigen »Spaß«bad los, das selbst für amerikanische Themenparkverhältnisse zu abgefahren ist – was, wenn ich Youtube glaube, viel heißen will – und wahrscheinlich nach der ersten Saison schon bankrott gewesen wäre, auch wenn die Wasserrutschen wohl wirklich toll sind, und zieht sich durch den Rest des Plots, der mit viel Spannung aufwartet, aber nicht besonders viel Tiefgang mitbrigt. Es ist eben ein Ferienabenteuer, wie wir es früher von Enid Blyton bekommen haben, und man darf nicht zu viel hineininterpretieren, wird aber gut unterhalten. Es gibt Geheimgänge, die wirklich an Blyton erinnern, nicht so viel rätselhafte Schnitzeljagden, wie Alexander gehofft hat und ich auch, und ein Ende, das ich persönlich sehr offentichtlich fand und das wirklich arg mit dem Zaunpfahl gewunken hat, und auch wenn ich fast vierzig Jahre älter bin als die eigentliche Zielgruppe, habe ich da im Geiste einen halben Punkt abgezogen.

Und noch etwas ist das Ende: offen. Zwar wird der Wasserpark-Plot aufgelöst, aber was es nun mit den Eltern der Kinder (verschwunden?) und der seltsamen Tante (ein Geist?) auf sich hat, wird nicht erklärt, und so werden viele relevante Fragen in diesem Band nicht beantwortet. Mit großer Geschäftstüchtigkeit ist an das Ende des Buches schon das erste Kapitel des Folgebandes, Vampiric Vacation, angehängt, und natürlich ist das Kalkül aufgegangen und ich habe mir jetzt alle Folgebände bis zum fünften Teil bestellt, in der Hoffnung, dass die Reihe damit dann auch abgeschlossen ist und ich meine Antworten bekomme. Und die übrigen Bücher von Kiersten White behalte ich dann auch mal im Auge.

Mir gefällt wirklich, wie sie schreibt. Was sie in meinen Augen sehr gut macht, ist, ebenso beiläufig wie selbstverständlich Diversität in ihre Bücher einzubauen. So ist die große Schwester Wil schwarz, Edgar hat zwei Väter, und wenn die Kinder überlegen, wie genau sie denn nun mit Tante Saffronia verwandt sind und dabei merken, dass sie über die Familie ihrer Mutter rein gar nichts wissen, ziehen sie in Betracht, dass Saffronia die Frau eines Bruder oder eben einer Schwester der Mutter sein könnte. Besonders gut hat mir da eine Stelle gefallen, als sich die Zwillinge für einen Besuch im einzigen Restaurant des Parks in Schale schmeißen müssen, weil man einen victorianischen High Tea nicht in Badeklamotten einnehmen kann, und beide vor die Wahl gestellt werden, ein Kleid oder Hosen zu tragen – Hauptsache rausgeputzt.

Anderes wird ein bisschen zu häufig wiederholt. Dass die Kinder – wie auch die Autorin – keine Rosinen mögen, wird derart zu Tode geritten, als wäre allein die Existenz von Rosinen die größte vorstellbare Zumutung auf Erden (Disclaimer: Ich liebe Rosinen, und ein klassischer victorianischer Mince Pie mit Zuckerguss, Rosinen und gebratenem Hack klingt für mich echt lecker). Auch dass es im Park keine Churros gibt, scheint ein echter Skandal zu sein – hier fehlt mir wohl die Vorbildung, hierzulande assoziierte man Freibäder ja eher mit Pommes, aber in Amerika scheinen Churros das Schwimmbadfutter schlechthin zu sein, und ihre Abwesenheit im »Fathoms of Fun«-Waterpark wird so oft erwähnt, als wäre das wirklich unvorstellbar. Und wo White sich ein paar nette Wortspiele erlaubt, kommt ein »sinister – aber nicht im Sinne der Familie Sinister!«´, das am Anfang des Buches noch charmant ist, einfach viel zu oft.

In Anbetracht der kindlichen Zielgruppe – für die das Buch auch wirklich gut geeignet scheint, die Leser:innen nicht überfordert, aber auch nicht für dumm verkauft – hat mich Wretched Waterpark jetzt nicht so gruselig mitgerissen wie Hide, und ein Freizeitbad ist jetzt nicht ganz so sehr mein Ding wie ein verlassener Vergnügungspark, aber dramaturgisch hat Kiersten White hier einiges deutlich besser gelöst. Als Theo in der Parkbibliothek ein geheimnisvolles Buch findet und die Kinder anfangen, darin zu lesen, fürchtete ich schon einen Infodump, wie er mich bei Hide doch sehr gestört hatte, aber weit gefehlt – die Kinder blättern sich etwas ratlos durch Seiten voller Verträge, ohne deren Anwaltssprech zu verstehen,  und stecken das Buch wieder ein. Seitenlange Tagebuchaufzeichnungen stören hier nicht die Handlung, und die Geheimnisse bleiben das auch bis zum Ende, einschließlich der Frage, was es mit den sieben nahezu austauschbar aussehenden Rettungsschwimmerinnen nun auf sich hat, und das tut der Dramaturgie insgesamt gut.

Während die meisten anderen Bücher von Kiersten White auch auf Deutsch erschienen sind, sehe ich für die Sinister Summer-Serie für den deutschsprachigen Markt noch keine Ankündigung, und vielleicht ist die Thematik mit den typisch amerikanischen Touristenattraktionen auch zu fremd für hiesige Kinder. Erwachsenen, die kein Problem haben, Englischsprachiges zu lesen und die Spaß an einem spannenden Kinderbuch haben, empfehle ich die Reihe – oder zumindest den einen Band, den ich bis jetzt gelesen habe – aber gern, das ist ein intelligent gemachtes Stück Popcornliteratur, das sich wirklich gut in einem Rutsch runterlesen lässt. Ich warte jetzt also auf den zweiten Teil, und wenn mir der gefällt, lese ich den ganzen Rest auch noch gleich hinterher. Und dann wird sich zeigen, ob diese Zwillinge genug (Entwicklungs)Potenzial mitbringen, um eine ganze Reihe tragen zu können. Ich hoffe es. Und freue mich drauf.

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