Alix E. Harrow: The Ten Thousand Doors of January

Inzwischen ist er schon wieder auf dem Rückgang, der Trend, anstelle eines Klappentextes nur eine Reihe vollmundiger Kritikerstimmen auf ein Buch zu drucken, aber 2019, als The Ten Thousand Doors of January erschienen ist, war diese Unsitte in voller Blüte – der eigentliche Klappentext fand sich dann auf der U3 genannten Innenklappe, aber in den Onlinebuchhandlungen fand man diesen Text nicht, sondern nur die Lobeshymnen. Und so hatte ich, als ich mir das Buch 2020 kaufte, nicht viel mehr Anhaltspunkte als den tollen Titel und die Aussage, dass diese Geschichte schier unerträglich schön sein sollte. Nichts gegen ein Testimonial von jemandem, dem das Buch gefallen hat – und von mir aus auch von New York Times-Bestsellerautorinnen und Hugo Award-Gewinnern, aber nach dem Motto »viel hilft viel« nicht weniger als sieben Testimonials auf das Buch drucken und kaum ein Wort über den Inhalt verlieren ist vielleicht nicht die aussagekräftigste Art, ein Buch zu verkaufen.

Bei mir hat es aber gereicht. Und was ich dann auf der U3 las, sprach mich auch an – wurde mir doch ein verwinkeltes Herrenhaus versprochen, nicht weniger als zehntausend Türen, ein Mädchen auf der Suche nach sich selbst, Abenteuer, Liebe … Alles zusammen, und dann auch noch die Berge von Lob, klang das wie ein Buch, das ich lieben würde. Der Lockdown zeichnete sich damals schon ab, versprach mir viel Zeit zum Lesen, und so machte ich mich dann im jenem März, als die Leibziger Buchmesse abgesagt wurde und ich im Haus festsaß, an die Lektüre. Und ich wollte das Buch wirklich lieben, allein: Es liebte mich nicht zurück.

Ich las die ersten zwei Kapitel ziemlich unbeeindruckt, und statt, wie mir eines der Testimonials versprochen hatte, jeden Satz zu genießen, fand ich das Ganze nur ziemlich ‚meh‘, kam nicht in die Geschichte rein und brach die Lektüre wieder ab. Während des Lockdowns las ich nichts mehr, auch nichts anderes, es sollte bis 2024 dauern, bis ich mir das Lesen zurückeroberte, und all die Jahre über lag The Ten Thousand Doors of January nicht auf meinem Stapel Ungelesener Bücher, sondern als aktuelle Lektüre neben meinem Bett. Und dann auf dem Fußboden neben dem Bett. Und dann unter meinem Bett, wo es langsam Staub ansetzte. Aber ich war mir seiner Anwesenheit immer bewusst, und es dann wieder ans Lesen ging, wollte ich auch meine Altlasten abarbeiten. In diesem Jahr will ich kein Buch abbrechen, alles fertig lesen, selbst wenn ich mich dazu zwingen muss, und so machte ich mich erneut an die Zehntausend Türen.

Selbst wenn mir Goodreads, wo das Buch immer noch als aktuelle Lektüre gelistet war, verriet, dass ich es bis irgendwo um Seite 55 herum geschafft hatte, fing ich noch einmal neu zu lesen an – ich hatte keine Erinnerungen mehr an das vor vier Jahren gelesene. Und wieder konnte der Anfang mich nicht packen. Es war nicht nur die mir seinerzeit abhandendekommene Lust am Lesen schuld: Der Einstieg in diese Geschichte ist zäh und macht es den Lesenden nicht gerade einfach. Und so las ich das Buch inkrementell, ließ es zwischendurch wochenlang liegen und las andere Sachen und musste mich immer wieder überreden, mit der Lektüre weiterzumachen. Es wurde besser, las ich einmal die Mitte des Buches erreicht hatte und die Geschichte an Fahrt aufnahm – und am Ende hat das Buch mir auch gefallen, aber es ist jetzt nichts, das mich in Begeisterungsstürme ausbrechen lassen würde. Mein Hauptkriterium, damals wie heute: Es hat mir zehntausend Türen versprochen. Und bekommen habe ich wie viele – ein gutes Dutzend? Und so war es einfach nicht das, was ich mir erhofft hatte.

Man darf auch nicht, wie ich es tat, denken, dass die zehntausend Türen zu dem verwinkelten Herrenhaus gehörten. DAS wäre ein Buch für mich gewesen! Ein Haus mit zehntausend Türen zu zehntausend Räumen und ein Mädchen, das sie eine nach der anderen öffnet … Ja, ich wusste wohl, dass das den Rahmen eines Buches von rund 400 Seiten gesprengt hätte. Aber man darf ja wohl noch hoffen. Stattdessen befinden sich die Türen verstreut auf der ganzen Welt, mit einem Schwerpunkt auf Nordamerika, und sie führen nicht einfach nur in Räume, sondern gleich in andere Welten. Und auch damit kann man eine tolle Geschichte erzählen.

Ich habe mich in der siebenjährigen January wiedergefunden, die eine im Feld stehende Tür findet, die buchstäblich ins Nichts führt und die sie, nachdem sie eine kleine Geschichte dazu geschrieben hat, mitnimmt in eine andere Welt. Ich habe als Kind auch immer nach solchen Türen gesucht, war ganz begeistert von der Türenausstellung im Baumarkt, die meine Phantasie nur so beflügelt hat … Nein, Januarys Geschichte ist wirklich toll, sie ist eine Icherzählerin mit starker Stimme, und an ihr liegt die Zähigkeit des Buches nicht. Ihren teil des Buches habe ich wirklich gern gelesen. Aber in The Ten Thousand Doors of January geht es immer auch um das Dazwischen, und das Dazwischen nimmt hier eine über weite Strecken zu dominierende Gestalt ein.

January Scaller ist eine starke, überzeugende Figur – ein Mädchen von unbestimmter Ethnie, die rotbraune Haut hat sie vom Vater geerbt, ihre Mutter war wohl weiß, die hat sie aber nie kennengerlent. January lebt in dem mit Kuriosiäten aus aller Welt vollgestopftem Haus eines reichen Geschäftsmanns in Vermont und wird selbst als größte Kuriosität von allem behandelt, ihr Gönner, Mr. Locke, verhält mehr wie ein Besitzer, und auch wenn die Sklaverei da schon seit einigen Jahrzehnten abgeschafft ist – das Buch spielt zwischen 1901 und 1911 –, ist January doch ein Kind, ein Mädchen noch dazu, und hat nicht viel zu melden. Während der Vater dauernd unterwegs ist, mehr Kuriositäten sammeln im Dienste der »New England Archeological Society«, lebt das ebenso verwöhnte wie vereinsamte kleine Mädchen in Lockes musealem Herrenhaus mit nichts als ihrer Phantasie, ihrem bockigen Trotz und dem Krämersohn als Spielgefährten – bis sie eine Tür findet und hindurchgeht.

Natürlich macht January den entscheidenden Fehler, wie ihn vor ihr schon Alice und Dorothy gemacht haben und nach ihr so viele andere Kinderbuchkinder: Sie dreht um und kehrt wieder zurück. January ist ein Mädchen von nahezu unerträglicher, aber um so plausiublerer, Folgsamkeit. So bleibt sie nicht in ihrem wundersamen Land, sondern kehrt zurück ins staubige Kentucky, wo sie gerade mit Mr. Locke Station macht, und muss unter zornigen Tränen mitansehen, wie dieser die Tür zersört, ihre Kladde mit der Geschichte gleich mitverbrennt und dem zu aufmüpfigen Kind danach die garstigste aller teutonischen Kinderfrauen an die Seite stellt, um ihr diese Flausen auszutreiben. So viel Ungerechtigkeit muss January erleben, dass es mich immer wieder zu zornig gemacht hat, um weiterlesen zu wollen – sei es durch den Rassismus im von der Jim Crow-Gesetzgebung geprägten USA, sei es die allgegenwärtige Frauenfeindlichkeit oder einfach das Machtgefälle zwischen Reich und Arm – January, die immer wieder aufs Brot geschmiert bekommt, dass sie dankbar zu sein hat, muss erst langsam lernen, wie man rebelliert.

Danach folgt das Buch episodenhaft Januarys Heranwachsen zu einer jungen Frau, und der Teil zieht sich dann schon ein bisschen. Sie erst bekommt einen treuen Hund, dann eine ostafrikanische Gesellschafterin, und das hätte schon alles ein bisschen gestrafft werden können – dann aber verschwidnet Vater Scaller auf einem seiner archäologischen Raubzüge, wird gleich für tot erklärt, und January findet ein Buch, das selbst ein Tor zu einer anderen Welt darstellt – und hier offenbart daS Buch dann gleich seine größte Schwäche. January, wiewohl eine Leseratte, liest das Buch nämlich nicht in einem Rutsch, sondern immer nur ein Kapitel an dramaturgisch passenden Momenten, und das ergibt alles ziemlich wenig Sinn. Die Kapitel dieses Buches, auf den ersten Blick einer Abhandlung über das Wesen von Türen, alternieren dann also mit Kapiteln von Januarys Abenteuern, und die wären so viel schneller vorbei, wenn sie einmal das Buch bis zum Ende lesen würde, statt immer nur kleine Häppchen davon zu nehmen.

Was dieses Buch dann wirklich erzählt, war mir als Leser sehr schnell klar, und doch wurden die Eröffnungen viele Kapitel später wie ein großer Knalleffekt behandelt. Das ist eines meiner Hauptprobleme mit The Ten Thousand Doors of January – vieles ist wirklich sehr, sehr offensichtlich, nur January, wiewohl als ein intelligentes Mädchen angelegt, kann oder will das nicht durchschauen. Was in dem Buch steht? Was es mit ihrer Herkunft auf sich hat? Wer der große Schurke ist? Immer wieder gibt es diese »Nein!«- »Doch!« – »Oh!«-Momente, an denen ich nur die Augen verdrehen konnte und sagen »Aber das weiß ich doch schon ewig!« – das nimmt die Spannung aus der Geschichte, so schön sie auch geschrieben ist. Und das ist sie wirklich: Allerdings gilt das mehr für die Teile, die January selbst erzählt, als für die oft recht dröge Türen-Abhandlung. Es ist ja schön, dass Autorin Harrow da den wissenschaftlichen Tonfall so gut getroffen hat, dass sie das ganze auch noch mit Fußnoten versehen hat: Eigentlich will ich einen Roman lesen, will ich wissen, wie es mit January weitergeht, und da bremst mich das ganze gerade doch ziemlich aus. Und so waren die Kapitel aus der Abhandlung für mich jedesmal aufs Neue Stopper im Lesefluss.

Deswegen ist die zweite Hälfte des Buches dann auch deutlich besser zu lesen – ab da geht es nämlich, ohne weitere Unterbrechungen, um Januarys Geschichte. Die ist spannend, schön zu lesen, und auch wenn sie mich zwischendurch immer noch zornig gemacht hat, eine nette Geschichte. Aber immer noch nichts, das mich völlig besoffen vor Glück zurücklassen würde – zu vieles ist nicht perfekt an diesem Romandebüt, zu viel ist vorhersehbar, und die Spannung hat mir gefehlt – und irgendwie auch der Ideenreichtum. Dafür, dass mir das Buch – oder besser, das Buch-im-Buch – erzählt, dass es zehntausend Türen zu zehntausend Welten gibt, kommen in diesem Buch nicht nur zu wenig Türen vor, sondern auch viel zu wenig Welten.

Von einem kurzen Zwischenstop in Arcadien abgesehen, pendelt die Handlung nur zwischen dem USA des frühen 20. Jahrhunderts und einer anderen Welt, der Geschriebenen – beides durchaus faszinierend, auf der einen Seite schöner Weltenbau, auf der anderen ein gut recherchiertes historisches Setting, aber ich hatte mir einfach mehr erhofft. Mehr Türen, mehr Welten, und nicht nur die Aussicht, dass January, wenn sie sich ranhält, zehntausend davon bereisen kann. Vielleicht, mit anderer Prämisse, hätte ich mehr Spaß an The Ten Thousand Doors of January haben können. So hinterlässt das Buch ein seltsam unbefriedigtes Gefühl zurück. Ich habe es bis zum Ende gelesen nicht aus Liebe, aber um es abhaken zu können, und das ist ein Buch-Leser-Verhältnis, das ich eigentlich niemandem wünschen möchte, keinem Leser und auch keinem Buch.

Ich weiß, dass es Harrows Debütroman war, und seitdem hat sie einige anderen Bücher geschrieben, die durchaus interessant klingen. Und weil ich hoffe, dass sie die Anfängerfehler, die sie in The Ten Thousand Doors of January gemacht hat – denn für nichts anderes halte ich die Behandlung des Buchs-im-Buch oder das eher unmotvierte Auftreten eines Vampirs – hinter sich gelassen hat, gebe ich ihr gerne nochmal eine Chance. Ich muss jedenfalls sagen, dasss mir das Ende des Buches gut gefallen hat, und Enden sind eine Kunst für sich: Wer das schon beim Debütroman hinbekommt, dem traue ich schon eine ganze Menge zu. Bis ich aber dazu komme, mir Starling House oder ein anderes von Harrows neueren Büchern anzuschauen, habe ich noch einen hohen SuB abzuarbeiten. Nur vier Jahre muss es nicht mehr unbedingt dauern.

Also, ich habe kein neues Lieblingsbuch und keine neue Lieblingsautorin, und doch möchte ich The Ten Thousand Doors of January weiterempfehlen – wer einmal in der zweiten Hälfte angekommen ist, sich nicht an der eher dünnen Spannung stört und nicht maßlos gierig nach wirklich tausenden von Türen und Welten verlangt, kann aus diesem Buch bestimmt eine ganze Menge mitnehmen. Nur für mich, 2020 wie 2024, war es einfach nicht das, was ich mir davon erhofft hatte.

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