Barbara Wendelken: Eine Frühstücksfee für Julia

Wenn man wie ich zehn Jahre lang Bücher nur verkauft, aber effektiv nie gelesen hat, sollte man ganz vorsichtig sein, wenn man dann doch mit dem Lesen wiederanfängt. Der Verdurstende, der aus der Wüste kommt, darf auch keine zehn Liter auf einmal trinken. So erschien es mir ganz sinnvoll, mir ein Buch für Leseanfänger vorzunehmen. Meine Kollegen guckten zwar ein bisschen seltsam, als ich ihnen demonstrierte, dass doch noch eine Leserin in mir steckt – wohlgemerkt, ich befand mich zum Zeitpunkt des Lesens als Praktikantin an der Verbuchungstheke einer Stadtbücherei, aber es war nicht viel los, und immer wenn Leser kamen – im Fachjargon: Benutzer – legte ich das Buch brav beiseite und kümmerte mich um Ausleihen und Rücknahmen. Sowas kann man nicht mit jedem Buch machen – aber wenn man über dreißig ist, und das Buch richtet sich an Sechsjährige, sollte das schon gehen.

Und es ging ganz gut. Denn trotz des ziemlich bescheuerten Titels Eine Frühstücksfee für Julia, der zu kitschig und zu niedlich klingt, ist es eine lesenswerte kleine Geschichte, in der überhaupt keine Feen vorkommen. Und – man glaube es oder nicht – ich entdeckte gravierende Parallelen zwischen der kleinen Heldin, Julia, und mir selbst.

Julia wohnt bei ihrer alleinerziehenden Mutter, die als Marktfrau arbeitet – nicht die freundliche Apfelfrau mit Bauernhofanschluss, sondern mit einem Ramschstand: Bei den heutigen Sechsjährigen ist schonungsloser Realismus angebracht, selbst wenn man im Titel noch eine Fee versprochen hat. Natürlich liebt Julia ihre Mutter heiß und innig, aber diese muss morgens viel zu früh los, wenn Julia noch schläft, und das vorbereitete Frühstück ist ungenießbar. Lebhaft zelebriert die Autorin lauwarmen Kakao mit extraviel Haut und eingetrocknetes Schwarzbrot – da vergeht auch dem Leser aus reiner Sympathie gleich der Appetit. Julia geht also lieber ungefrühstückt zur Schule, und die Zeit, die sie braucht, um das Brot im Mülleimer zu verstecken, damit die Mutter es nicht merkt, kann sie ja beim Zähneputzen sparen, wo sie doch eh nichts gegessen hat. Kein Wunder, dass Julia in der Schule unkonzentriert und fahrig ist!

Ich dagegen schlurfe morgens aus dem Bett in die Küche, brühe mir einen Tee auf, den ich auch brav trinke, aber ich verzichte aufs Essen – zum einen fehlt mir um diese Uhrzeit aller Appetit, zum anderen bin ich oft knapp an Zeit, und lieber hungrig als zu spät. Im Vergleich zu Julia bin ich aber im Umgang mit meiner Mangelernährung routiniert, und meine Buchstaben bleiben brav in der Reihe, und konzentrieren kann ich mich auch. Aber ich habe keinen pädagogischen Anspruch, Eine Frühstücksfee für Julia schon, und dass ein gesundes Frühstück wichtig ist, kann ein Kind gar nicht früh genug lernen. Weil es das als Erwachsener ohnehin nicht mehr befolgen wird. Besser also vierzehn Jahre lang gut frühstücken.

Einfühlsam und ohne mit der sozialen Keule zu kommen, schildert die Autorin den Alltag: Die von Geldsorgen geprägte Mutter und das geliebte, aber nichtsdestotrotz vernachlässigte Schlüsselkind; nur die strenge, aufmerksam-besorgte Lehrerin kommt am Ende vielleicht ein wenig zu sehr wie der Reiter des Königs daher – aber es ist ein Buch für Leseanfänger, und als solches schon auffällig komplex und tiefgehend. Ich bezweifle, dass die echten Sechsjährigen die Geschichte mit allen Schattierungen erfassen können, aber über welches gute Kinderbuch kann man das nicht sagen? Ein Buch, das sich dem Erstklässler restlos darbietet, ist für Erwachsene langweilig. Und gelangweilt hat mich dieses Buch nicht. Ich habe hinterher meiner Mutter davon erzählt: Das tue ich nur mit Büchern und Filmen, aus denen ich mir einen Denkanstoß geholt habe.

Sollte nun also jeder unausgeschlafene Morgenmuffel Eine Frühstücksfee für Julia lesen? Nein, ein Muss ist dieses Buch nicht. Aber wenn man es gerade mal in die Finger bekommt und nicht davor zurückschreckt, sich mit einem Buch in Großdruck sehen zu lassen, ist die Viertel- bis halbe Stunde, die das Lesen dauert, sicherlich gut investiert.

Nachtrag: Das Cover zu diesem Buch stellte mir freundlicherweise die Autorin, Frau Wendelken, zur Verfügung. Weitere Informationen über sie und ihre Bücher gibt es auf ihrer Webseite.

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