Catherine Fisher: Incarceron

Ich will keine Eigenwerbung machen. Dieses Blog handelt von den Büchern, die ich lese, nicht von denen, die ich schreibe, und da ich bis heute kein Buch am Markt habe, von meinen Exkursen als Selbstverleger vor fünf Jahren mal abgesehen, sollte ich ganz kleine Brötchen backen. Aber hier kann ich nicht anders, als dieses hier mit einem meiner eigenen Werke zu vergleichen, und obwohl ich völlig zufrieden damit bin, wenn ich ein Buch auf Englisch lesen kann, ist es diesmal ein Jammer, dass Incarceron noch keinen deutschen Verlag gefunden hat: Es würde für mich die Chance, meine Gauklerinsel an den Mann zu bringen, deutlich erleichtern, denn dann könnte ich sagen: »Wenn überhaupt, kann man es mit Incarceron vergleichen, das passt auch in keine Schublade und folgt keinem Trend und ist doch ein Bestseller, der sich in viele Sprachen verkauft hat.«

Nun gibt es bekanntlich keine Gerechtigkeit auf der Welt, und nur weil diese renommierte Autorin, die schon einen Haufen erfolgreicher Bücher am Markt hatte, so etwas schreiben kann, heißt das noch lange nicht, dass ich das auch darf. Trotzdem, auch mit meinem unverkauften Lieblingswerk im Hinterkopf habe ich die Lektüre genossen, und selbst wenn es mit meinen Gauklern nicht klappen sollte, werde ich mich trotzdem freuen, dass es wenigstens dieses eine Buch geschafft hat. Wie ich über dieses Buch gestolpert bin, kann ich nicht mal sagen – es war über eine »Leser, die dieses gekauft haben, kauften auch…« bei Amazon, aber von welchem Titel das ausging, weiß ich nicht mehr. Es wäre interessant – denn außer meinem eigenen kenne ich keines, das man mit Incarceron vergleichen könnte. Wenn man einen Stempel drauf machen muss, wäre das im Moment vielleicht ‘Dystopie’, aber das ist Tagesform und kann sich jederzeit ändern, je nachdem, welchen Trend die Verlage gerade verkaufen wollen. Steampunk? Postapokalypse? Science-Fiction? Wie es euch gefällt. Das Buch ist vielseitig.

Das Erste, was mich auf Incarceron aufmerksam gemacht hat, war das Cover und der Titel. Von den Büchern auf meinem Lesestapel ist es eines der drei schönsten. Und als ich dann auch noch gelesen habe, dass es um ein lebendes Gefängnis geht, gab es kein Halten mehr, es wurde gekauft und die Fortsetzung gleich mit. Dann lag es erstmal da, fast zu schön zum Lesen, aber ein Gutes war, dass ich keine Ahnung hatte, was mich erwartet – war ich doch beim Klappentext über »lebendes Gefängnis« nicht hinausgekommen – und so konnte ich mich ganz unvoreingenommen ans Lesen machen. Selbst wenn, hätte auch ein ausführlicher Klappentext mir nicht viel weitergeholfen. Das einzige Buch, dessen Handlung noch schwieriger nachzuerzählen wäre, ist Gormenghast. Und tatsächlich sehe ich da Gemeinsamkeiten – so wie in dem einen das verwinkelte Schloss die eigentliche Hauptfigur darstellt, ist es hier das Gefängnis.

Fangen wir damit an, dass es zwei Handlungsebenen gibt, die räumlich so weit auseinanderliegen, dass man am besten auf ein bisschen Quantenphysik oder Orbitalchemie zurückgreift, um das zu erklären. Da ist also auf der einen Seite Incarceron, das Gefängnis, in das ein von Visionen getriebener König vor Generationen den ganzen Abschaum seiner Gesellschaft ausquartiert und die Zugänge versiegelt hat. Hier treffen wir Finn, den Sternenseher, der sich, ganz klassisch, ohne Erinnerung in einer Zelle wiederfindet und ganz augenscheinlich vom Gefängnis selbst geboren worden ist. Er pflegt Umgang mit gewissenlosen Schurken, aber es ist sicher schwierig, an einem Ort wie diesem, wo Anarchie und Gewalt das Leben bestimmen, rechtschaffene Sonnenscheinchen zu finden, und Finns Freund und Eidesbruder Keiro ist ein gutaussehendes, aber menschlich besonders schäbiges Exemplar – muss ich erwähnen, dass er meine Lieblingsfigur ist?

Auf der anderen Handlungsebene haben wir Claudia, die ein verwöhntes Leben als Braut des Prinzen führt und in einer Art Pseudo-Barock lebt – jener visionsgeplagte König hat nicht nur Incarceron erschaffen, sondern auch den Fortschritt und die Technik abgeschafft und seinem Volk eine Epoche aufgedrückt, in dem es glücklich sein soll. Hinter den Kulissen schnurren trotzdem die Maschinchen, und wer wie Claudia ein bisschen Durchblick hat, weiß auch, dass das alles nur Fassade ist, aber Claudias Vater ist der Wärter von Incarceron, und so hat Claudia zwei Interessen: Nicht den fiesen Prinzen heiraten müssen und herausfinden, was es mit Incarceron und den väterlichen Geheimnissen auf sich hat.

Finn hat Visionen von Außen, er will Entkommen, so wie es vor ihm der legendäre Sapphique getan hat, und damit beginnt nicht nur eine aberwitzige Odyssee durch einen intelligenten Ort, der wie Jim Hensons Labyrinth seinen eigenen Willen besitzt – damit beginnt auch die Große Großschreibung. Im Englischen bin ich daran gewöhnt, dass alles außer Eigennamen und dem Pronomen I kleingeschrieben werden, aber in Incarceron gibt es so viele Ausdrücke, die eine besondere Bedeutung haben, dass sie alle großgeschrieben werden: Gerade bei Verben ist das sehr gewöhnungsbedürftig, und es wirkt streckenweise doch arg bemüht, obwohl man dem Buch auch anmerkt, dass die erfahrene Autorin ihr Handwerk perfekt beherrscht.

Durch den Roadmoviecharakter des Buches wechseln die Schauplätze, aber die Handlungsträger sind eine erfreulich überschaubare Gruppe an wunderschön ausgearbeiteten Charakteren. Man muss als Leser darauf vorbereitet sein, dass eigentlich niemand wirklich sympathisch ist – Keiro, der sein ganzes Leben in Incarceron verbracht hat, ist verroht und doch zerbrechlich, Finns Visionen kommen als Anfälle von Epilepsie und Wahnsinn, Claudia verfolgt rücksichtslos ihre Interessen, und doch muss man sie alle irgendwie mögen. Die Hauptfigur bleibt jedoch der Namensgeber, Incarceron, das Gefängnis, das, wenn ihm das organische Material für die dort geborenen Geschöpfe ausgeht, mit Drähten und Zahnrädern nachhilft.

Aber das beste Setting und die interessantesten Figuren reichen nicht aus, wenn der Plot nicht stimmt, und da habe ich stellenweise mit mir gerungen. Claudia war in erster Instanz verlobt mit einem Prinzen, liebenswert, intelligent und das genaue Gegenteil von dem Kotzbrocken, den sie jetzt an der Backe hat, aber natürlich ist der Wunderknabe unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommen, wenn überhaupt – sag, könnte es sich dabei gar um Finn, der ein geheimnisvolles Muttermal hat ganz wie der verschollene Prinz, handeln? Sowas kann ein ganzes Buch runterziehen, hatte ich doch schon gehofft, die Verschollenen Prinzen mit der Blüte der High Fantasy in den Neunzigern zurückgelassen zu haben – aber hier darf ich Entwarnung geben, Incarceron kriegt die Kurve. Immer wieder schafft es das Buch, mich zu überraschen, und auch bei der Frage, ob Finn Claudias verschollener Liebster ist, wird am Ende so erfreulich unzureichend beantwortet, dass ich mich auf den zweiten Band freue.

Und der ist auch bitter nötig. Denn Incarceron endet nicht, es hört auf. Da ist zwar ein sinnvoller Cut, aber es bleiben doch mehr Fragen offen als beantwortet, und insgesamt fühlt es sich an, als wäre ein dickes Buch einfach entzweigeteilt worden – also genau das Schicksal, das ich für meine Gauklerinsel befürchte, sollte ich mal einen Verlag dafür finden, denn das Buch ist gegenwärtig so lang wie Incarceron und der Folgeband Sapphique zusammen. Wer sich also dieses Buch anschaffen möchte – was ich nur allerwärmstens empfehlen kann – ist gut daran bedient, gleich beide Bücher zu bestellen, um im Zweifelsfall dem allzu offenen Ende gleich Fortsetzung anhängen zu können.

Was schlussendlich den oben angesprochenen Vergleich mit Gormenghast angeht – da darf man nicht zu viel erwarten. Incarceron ist und bleibt immer noch ein Jugendbuch, alternativ ein AllAger, dem der Aberwitz und Wahn von Mervyn Peakes fragmentarischem Großwerk fehlt. Die Ähnlichkeiten sind vorhanden, aber doch mehr oberflächlich. Ebenso gut kann man sich an Williams Sleators Haus der Treppen erinnert fühlen, oder, wenn man den literarischen Bereich verlässt und sich dem Film zuwendet, mit dem Sci-Fi-Meisterstück Dark City. Nichts davon ist wirklich nötig. Incarceron braucht keinen Vergleich zu scheuen, aber es hat sie nicht nötig. Es ist einfach so ein tolles, ein lesenswertes Buch. Und ich wünsche mir, dass das auch mal irgendwann jemand über meine Gauklerinsel sagen mag.

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