bookmark_borderElizabeth Kim: Weniger als nichts

Warum Menschen mit psychischen Erkrankungen Bücher schreiben, liegt auf der Hand: Der Prozess des Schreibens hilft, die Narben in der Seele aufzuarbeiten, sich literarisch von Kindheit, Krankheit und Trauma zu distanzieren, und am Ende steht das befreiende Gefühl, endlich einmal alles losgeworden zu sein. Aber warum muss das verlegt werden? Und warum gelesen? Tatsächlich gibt es einen großen Markt für Leidensberichte. Das können nicht nur andere Betroffene sein, die sich aus diesen Werken Lebenshilfe versprechen und sich sagen »Wenn sie das geschafft hat, kann ich das auch« – so viele Betroffene gibt es dann doch nicht, zum Glück. Den Großteil machen also wohl die Sensationstouristen aus. Leute, die sich plötzlich richtig gut fühlen, wenn sie lesen oder sehen, dass es anderen noch viel viel schlechter gibt.

Während der Lektüre von Weniger als Nichts habe ich mich mehrmals gefragt, warum ich mir das Buch überhaupt ausgeliehen habe, warum ich mir seinen schwerverdaulichen Inhalt antue – Neutrales Interesse? Mitleid? Identifikation? Sensationsgier? Ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen. Aber ich habe es gelesen, und gelitten, bis zum Schluss.

Niemand weiß, wie alt Elizabeth Kim wirklich ist, nicht einmal sie selbst. Ihr Geburtstag, sogar ihr Geburtsjahr, sind so unbekannt wie der Name, den sie vielleicht einmal hatte, bevor sie durch Adoption Elisabeth Kim wurde. Ihr Leben war schrecklich, und als habe es von Anfang an darauf abgesehen, eines Tages zu einem Buch zu werden, wurde es immer und immer schrecklicher. Dieses Buch erzählt das Leben einer Unperson – geboren in der Umgebung Seouls als Tochter eines Amerikaners und eine Koreanerin, die sich nicht nach der Schande des Verlassenwerdens und der Schwangerschaft nicht dramatisch das Leben nahm, wie uns die Mme.… Weiterlesen “Elizabeth Kim: Weniger als nichts”

bookmark_borderBerte Bratt: Meine Tochter Liz

Ich war immer voreingenommen gegen Berte Bratt. Berte Bratt, die in der Stadtbücherei drei Regalbretter und im Schneiderbuch-Katalog ganze Seiten im Alleingang füllte, war für mich immer die Definition jener Art Mädchenbuch, die ich nicht las – ich mutmaßte, dass diese Geschichten von Liebe handeln mussten, und so etwas Reaktionäres und Konventionelles lehnte ich doch entschieden ab. Jugendbücher sollten über aktuelle Probleme informieren, nicht von Liebe handeln! So war Berte Bratt also mein Feindbild, ohne dass ich je ein Buch von ihr gelesen hatte, und ohne dass ich irgendjemanden gekannt hätte, der das tat. Dennoch hielt ich es für abscheulichen Mainstream. Ich schreckte nicht davor zurück, Enid Blytons gesammelte Werke zu lesen… Manchmal glaube ich, ich war ein komischer Mensch. Meistens glaube ich, ich bin es immer noch. Dennoch habe ich jetzt ein Buch von Berte Bratt gelesen. Und de fakto war das Werk nicht einmal schlecht.

Ich bin, wie so oft, durch Zufall darangekommen, als Büchereipraktikantin. Immer wieder kommt es vor, dass freundliche Menschen der Stadtbücherei Bücher spenden, und diese enden dann entweder in der Wühlkiste oder werden in den Bestand eingearbeitet. Die Spende, mit der ich es zu tun hatte, enthielt einen Berg Mädchenbücher, die gesammelten Werke Berte Bratts, und das ist nicht mehr unbedingt das, was die jungen Mädchen des neuen Jahrtausends noch gerne lesen. Vor allem nicht mit diesen authentischen Siebziger-Jahre-Titelbildern. Der Großteil dieser Bücher wird also wohl in der Wühlkiste gelandet sein. Es macht wenig Sinn, Zeit und Material und Regalplatz aufzuwenden für ein Buch, das keinen Leser mehr findet, selbst wenn es eine Spende war.… Weiterlesen “Berte Bratt: Meine Tochter Liz”

bookmark_borderVictoria Holt: Das Haus der Sieben Elstern

Ich habe nie erwartet, dass dies ein gutes Buch sein würde. Tatsächlich rechnete ich mit dem Schlimmsten, als ich es aus der Bücherei mitnahm – aber ich wollte einen Schmöker, in dem sich alte Familiengeheimnisse um ein noch älteres Haus ranken, und da erschien es mir geeignet. Es gibt viele solcher Haus-Geheimnis-Bücher, und sie machen mir für gewöhnlich zumindest Spaß. Ich mag geheimnisvolle Häuser. Und da es am Ende ohnehin an die Bücherei zurückgeht, kann es ruhig schlecht sein.

Nun hatte ich ja alle Allingham-Bücher in München zurücklassen müssen – bis auf Gefährliches Landleben, aber das kannte ich ja schon – und brauchte für die Rückfahrt etwas zum Lesen. Sechseinhalb Stunden Zugfahrt sind kein solches Vergnügen, wenn man nichts zu tun hat, und so nahm ich mir Das Haus der Sieben Elstern vor. Ich erwartete nichts – und das bekam ich dann auch.

Victoria Holt ist eine Autorin, die ihre Bücher gern in der Viktorianischen Ära ansiedelt – nicht aus historischem Interesse oder weil sie sich damit besonders gut auskennt, sondern weil sie dann ein Alibi hat, ihre Heldinnen in Krinolinen zu stecken und am Ende mit Mr. Right (oder in der Mitte mit Mr. Wrong) zu verheiraten, ohne dass man ihr Verrat an der Frauenbewegung vorwerfen müsste. Auch in diesem Buch ist die Ära mehr eine nominelle Sache, eine Phantasiewelt, in der alles irgendwie rosig ist und es die Hauptsorge greiser Pächterswitwen ist, dass man ihnen zum Geburtstag einen Mohnkuchen backt, wo sie doch lieber Marmeladenbrote essen wollen. Not und Elend?… Weiterlesen “Victoria Holt: Das Haus der Sieben Elstern”

bookmark_borderJean Webster: Daddy Langbein

Kein Buch aus der Bücherei, und keines, das ich zum ersten Mal lese – nein, es ist mein eigenes, und es ist mindestens das dritte Mal und ganz sicher nicht das letzte. Beim ersten Mal war ich fünfzehn und das Buch aus der Bücherei. Beim zweiten Mal war ich zwanzig und hatte das Buch passenderweise auf dem Flohmarkt der Heilsarmee erstanden. Und jetzt hatte ich einfach wieder Lust darauf. Es ist ein tolles Buch. Ich brauchte ein tolles Buch. Das Gemini-Projekt hatte zuviel von meiner positiven Leseenergie aufgebraucht. Da mußte etwas Bewährtes her. Und als ich im Internet durch Zufall auf die Anime-Verfilmung von Daddy Longlegs stieß, bekam ist plötzlich wieder Lust, dieses Buch zu lesen. Und fand mich wenige Minuten später im Wohnzimmer wieder, die Beine hochgelegt, eine Decke über den Knien und diese Blüte der amerikanischen Mädchenliteratur in Händen. Und las, und las, und genoß wie damals und damals.

Dem Genre »Mädchenbuch« haftet irgendwie etwas Negatives an, als ob kein männliches Wesen jemals an einem dieser Bücher Gefallen finden könnte, es impliziert etwas Abgedroschenes, Schmonzettiges – als wäre es nur ein kleiner Schritt vom Mädchenbuch hin zu Rosamunde Pilcher und dem Echo der Frau. Ich verwende den Betriff jedoch weder ab- noch aufwertend für eine Untergruppe des Adoleszenzromans, in dem sich junge Frauen ihren Platz in der Gesellschaft schaffen. Und der ist nicht immer da, wo die zeitgenössischen Konventionen ihn gerne gesehen hätten. Vor allem in diesem Buch.

1912 erschienen, fällt Daddy Long-Legs in die gleiche Epoche wie Anne of Green Gables-Reihe, deren erster Band 1908 erschien.… Weiterlesen “Jean Webster: Daddy Langbein”